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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 15 470

 

1. Auflage: April 2006 Vollständige Taschenbuchausgabe Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe

Deutsche Erstausgabe Titel der englischen Originalausgabe: A Restless Evil © 2002 by Ann Granger © für die deutschsprachige Ausgabe 2006 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Lektorat: Gerhard Arth/Stefan Bauer Umschlaggestaltung: Bianca Sebastian Titelillustration: David Hopkins Satz: hanseatenSatz-bremen, Bremen Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN-13: 978-3-404-15470-8 (ab 01.01.2007) ISBN-10: 3-404-15470-3

Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Mit herzlichem Dank an Tim Buckland, Bakkalaureus der Zahnheilkunde, für seinen Expertenrat und seine Hilfe in dentalen Fragen bei diesem und vorhergehenden Büchern.

TEIL EINS

KAPITEL 1

DAS PUB nannte sich Drovers’ Rest. Das verblasste Schild schaukelte monoton knarrend hin und her und zeigte eine Herde Schafe sowie eine Gestalt in einem Bauernkittel. Die Schafe waren zu groß dargestellt oder der Schäfer zu klein, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete. Guy Morgan betrachtete es nicht länger als unbedingt nötig, bevor er seinen Rucksack von den Schultern gleiten ließ und sich mit einem erleichterten Seufzer aufrichtete. An der mürben Steinwand lehnte eine Reihe Fahrräder. Er war also nicht der Erste, der zu einer mittäglichen Rast hergekommen war.

Guy war nicht sehr weit gewandert an jenem Tag, doch das Wetter hatte an seiner Kraft gezehrt, und seine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei. Der Staub in seiner Nase hatte seine Kehle trocken werden lassen und einen rasenden Durst in ihm geweckt. All das war die Schuld dieses Windes, der auch mit dem Kneipenschild spielte. Der April ist normalerweise eine Zeit der Böen und der Schauer, die sich immer wieder mit Sonnenschein abwechseln. Doch dies hier war ein Südwind, der in den verschiedenen Teilen Europas verschiedene Namen trägt und für alle möglichen Beschwerden verantwortlich gemacht wird, angefangen von allgemeiner Schlaffheit bis hin zu Depressionen. Er hatte eigentlich überhaupt nichts zu suchen hier in den rollenden Hügeln der Cotswolds. Er war ein Kind der Wüste, das eine falsche Abzweigung genommen hatte. Er war über das Mittelmeer und den Kontinent gekommen und marodierte seit inzwischen vierundzwanzig Stunden unberechenbar und erbarmungslos über der englischen Landschaft.

Hoch oben am Himmel kämpften Vögel, um ihren Kurs gegen die launischen Strömungen zu halten. Seit dem frühen Morgen, als er aufgebrochen war, fühlte sich Guy von diesem Wind belagert. Er hatte ihm die Haare zerzaust und ihm seinen warmen, unangenehmen Atem ins Gesicht geweht. Jetzt stieß Guy die Tür zum Pub auf, froh über die Aussicht, seinen Folterknecht für eine Stunde los zu sein.

Er fand sich in einem lang gestreckten Raum mit niedriger Decke wieder, der sich durch das gesamte Gebäude zog. Er war zwischen massiven Tragbalken aus Eiche durch eine Gipswand mit einer Öffnung darin unterteilt. Guy schätzte, dass es sich bei dieser Wand um eine ehemalige Abtrennung handelte. Dahinter und zur Rechten hatten die Besitzer der Fahrräder sich niedergelassen. Sie kauerten an winzigen Tischen, tranken eigenartige Getränke und machten kurzen Prozess mit verschiedenen nahrhaften Snacks. Guy hatte nichts gegen Radfahrer, doch er neigte eigentlich mehr dazu, ihnen während seiner Pausen aus dem Weg zu gehen. Sie jagten in extrem unbequemer Haltung tief über die Lenker ihrer Räder geduckt in merkwürdig auseinander gezogenen Rudeln wie menschliche Greyhounds an ihm vorbei. Ihre Beine und Oberkörper steckten in hautengem Lycra, und ihre Schienbeine waren glatt rasiert und glänzten. Einige von ihnen trugen Schirmmützen, die Schirme nach oben geklappt. In Gedanken waren sie wohl nicht auf dieser staubigen Landstraße unterwegs, sondern kämpften sich irgendwo in den Pyrenäen einen Gipfel hinauf. Guy räumte ein, dass sie ihn wahrscheinlich ihrerseits als einen gestiefelten Technophoben betrachteten, genauso archaisch in diesem Millenniumsjahr 2000 wie den kitteltragenden Schafhirten auf dem im Wind schaukelnden Kneipenschild. Guy nickte dem am nächsten sitzenden Radfahrer kurz zu und entfernte sich dann, um sich an den Tresen zu lehnen. Der Wirt erschien vor ihm und begrüßte ihn freundlich.

»Hallo, was darf ’s denn sein?«

»Hallo«, erwiderte Guy.

»Ich hätte gerne ein Pint und die Speisekarte, wenn es möglich ist.«

»Das ist es, das ist es.« Der Wirt schob ihm eine Plastik mappe hin. Guy schlug sie auf und las die Speisekarte durch. Sie erschien ihm ein wenig üppig für ein so traditionell aussehendes Etablissement an einem so abgelegenen Ort. Selbst der Bauernimbiss aus Brot, Mixedpickles und Käse prahlte mit Brie.

»Haben Sie nichts mit Cheddar?«, fragte Guy.

»Wenn Sie es wünschen«, erwiderte der Wirt.

»Aber hier steht nichts davon.«

»Doch, natürlich. Sehen Sie, hier.« Der Wirt zeigte mit einem kurzen, dicken Zeigefinger auf den unteren Rand der Seite, wo Guy die Worte

»Auch eine Auswahl englischer Käsesorten ist erhältlich« las.

»Welche anderen englischen Käsesorten haben Sie denn?«

»Nur Cheddar … Die Saison hat gerade erst angefangen«, fügte der Wirt bedauernd hinzu. Guy begnügte sich mit dem Bauernimbiss, und seine Bestellung wurde laut in Richtung eines Hinterzimmers weitergeleitet. Der Wirt wandte sich wieder zum Tresen um.

»Wanderer?«, fragte er.

»Ja. Ein kurzer Urlaub, nur ein paar Tage.«

»Ganz allein?«

»Ein Kollege wollte eigentlich mitkommen, aber dann muss te er absagen.«

»Oh. Ich verstehe.« Der Wirt schürzte die Lippen.

»Wie weit wollen Sie denn?«

»Bis nach Bamford. Von dort aus nehme ich den Zug zurück nach London.«

»Ah, aus London kommen Sie also? Nun, vielleicht haben Sie ja Glück.« Guy war nicht sicher, was der Wirt damit meinte.

»Was denn, keine Züge?«, fragte er.

»O doch, natürlich, sobald Sie erst in Bamford sind. Allerdings könnten Sie ein wenig nass werden, bevor Sie dort ankommen.«

»Es war den ganzen Morgen über knochentrocken«, wandte Guy ein.

»Nur ziemlich windig.«

»Das Wetter ändert sich. In Wales drüben hat es schon angefangen zu regnen, und in Devon drohen Überflutungen. Es kommt in diese Richtung. Ich hab’s im Fernsehen gesehen.«

»Dann muss ich wohl ein wenig schneller laufen, wie?«, erwiderte Guy verärgert von der offensichtlichen Selbstzufriedenheit des Wirts. Die Tür öffnete sich, und zwei weitere Radfahrer kamen herein. Der Wirt wandte sich den neuen Gästen zu und ließ Guy in Frieden.

»Vielleicht sollten Sie sich ein Fahrrad zulegen wie die anderen auch«, waren seine Abschiedsworte. Ein Kaugummi kauendes Mädchen mit einem Teller voll Salat tauchte aus dem Hinterzimmer auf und blickte Guy mit einer Mischung aus Zweifel und Abschätzung an.

»Sie kriegen den Bauernimbiss?« Er nahm sein Mittagessen entgegen und zog sich in eine Ecke zurück, wo jemand seine Boulevardzeitung hatte liegen lassen. Guy setzte sich mit seinem Essen, seinem Bier und den jüngsten Skandalen hin. Als er mit allen dreien fertig war, bemerkte er einen Schatten auf der Seite und die schwache Wärme eines anderen menschlichen Wesens in der Nähe. Er hörte laut schnaufendes Einatmen. Er blickte auf. Das Mädchen mit der näselnden Stimme stand bei ihm am Tisch und betrachtete ihn auf merkwürdig beunruhigende Weise, dann streckte sie die Hand nach seinem Teller aus. Ihre Fingernägel waren abgekaut, und am Mittelfinger der rechten Hand steckte ein billiger Ring. Instinktiv ging Guy in die Defensive. Er kannte diesen Typ Frau.

»Fertig mit Essen?«, erkundigte sie sich.

»Ja, danke sehr«, antwortete er. Sie nahm den Teller auf, doch anstatt sich damit zu entfernen, blieb sie wie angewurzelt mit dem Teller in beiden Händen bei ihm stehen.

»Wanderer?« Es gelang ihm, nicht derb

»Sieht man das denn nicht?« hervorzustoßen. Er bejahte ihre Frage so knapp wie möglich. Sie war unempfänglich für subtile Hinweise.

»Ganz allein?« Er hatte es bereits dem Wirt erklärt, und zum Teufel, er würde es diesem Raubtier von Frau nicht auch noch erklären. Er nickte knapp, ohne ihr die Befriedigung einer richtigen Antwort zu geben, was die Konversation, so man es so nennen konnte, nur länger hätte dauern lassen.

»Schade«, sagte sie.

»Macht sicher nicht viel Spaß, so ganz allein. Niemand, mit dem man reden kann. Wo übernachten Sie heute?«

»Weiß ich noch nicht so genau«, wich er der Falle aus.

»Das Fitzroy Arms in Lower Stovey vermietet Zimmer«, bot sie ihm an.

»Ich hoffe doch, dass ich noch ein wenig weiter komme als bis nach Lower Stovey.«

»Schade«, sagte sie.

»Ich wohne nämlich da.« Der Wirt rettete ihn, indem er herbeigeschossen kam und befahl:

»Los, Cheryl, komm in die Gänge. Steh nicht rum und halt Maulaffen feil.«

»Vielleicht will er ja noch einen Nachtisch«, verteidigte sich Cheryl und fügte säuselnd in Guys Richtung gewandt hinzu:

»Wir haben Apfeltorte, Zitronenbaiser und Eiskrem.« Guy lehnte dankend ab.

»Ich muss weiter.«

»Wie Sie meinen«, sagte sie und stolzierte in Richtung Küche davon.

»Hinter jeder Hose her, die da«, bemerkte der Wirt und trottete wieder hinter seinen Tresen. Guy bemerkte erst jetzt, wie leer das Lokal in der Zwischenzeit geworden war. Er war der einzige Besucher. Die Radfahrer hatten sich besonnenerweise längst wieder auf den Weg gemacht. Mit einem schuldbewussten Blick auf seine Armbanduhr erkannte er, dass auch er besser früher aufgebrochen wäre. Er packte seinen Rucksack und stapfte nach draußen. Mit einem Blick zum Himmel erkannte er, dass die Vorhersage des Wirtes sich wohl als richtig erwies. Der lästige Wind war definitiv eingeschlafen, und ein grauer Schleier am Horizont kündete ein Tief an, das sich ostwärts bewegte. Die am weitesten entfernten Hügel waren bereits in Regenschleier gehüllt. Guy marschierte los, erfrischt und in der optimistischen Hoffnung, dass es ihm vielleicht gelang, vor dem Wetter zu bleiben. Zwanzig Minuten lang kam er gut voran, auch wenn er inzwischen bergauf wanderte. Dann landete vor ihm im Staub ein fetter Wassertropfen. Die graue Wolkenmasse war in den letzten Minuten über den Himmel gerast. Guy nahm seinen Rucksack herunter und kramte darin nach seiner Karte und dem wasserdichten Cape. Er blickte sich um. Er hatte den Gipfel noch nicht überquert, trotzdem hatte er von hier aus einen prima Ausblick auf das umliegende Land. Die Hügel waren ein subtiles Fleckwerk aus unterschiedlichem Grün, durchsetzt von gelben Feldern unter dem Schatten der Regenwolken, die inzwischen genau über ihm angekommen waren. Schafe und ihre Lämmer drängten sich an Steinmauern in unregelmäßigen weißgrauen Gruppen. Auch Guy suchte nach einem Unterstand. In der Ferne bemerkte er eine Farm, schätzungsweise zwei Kilometer querfeldein, zu weit weg. Er konnte kehrtmachen und zum Pub zurückkehren, doch es ging ihm gegen den Strich, die gesamte Strecke zurücklaufen zu müssen, und mehr noch der Gedanke, dem grinsenden Wirt gegenüberzutreten. Niemals eine Niederlage eingestehen. Guy fuhr mit dem Finger die gepunktete Linie auf der Karte entlang, die den alten Viehtreiberweg markierte. Es war nicht mehr als ein steiniger Pfad, weit abseits der modernen Asphaltbänder, die das Land durchzogen, doch er verlief schnurgerade durch die Gegend. Manche sagten, er wäre schon von den Römern angelegt worden, die berühmt waren für ihre Straßen, als ihre Legionen bei der Eroberung Britanniens nach Norden marschiert waren. Mit Sicherheit war der Pfad jedenfalls schon in den ersten schriftlichen Aufzeichnungen über die Geschichte der Gegend als Viehweg markiert. Früher einmal hatte hier starker Verkehr geherrscht; Viehtreiber, die ihre Rinder in die Städte zu den Schlachtern getrieben hatten, Landbevölkerung auf dem Weg zum Markt oder vom Markt nach Hause, Schafe vor sich hertreibend und mit schweren Körben voll landwirtschaftlicher Erzeugnisse beladen, kleine Karawanen von Lastponys, die Güter zu isolierten Weilern brachten oder geschorene Wolle in die Stadt zum Spinnen. Dann hatte die Wollindustrie an Bedeutung verloren. Viele der Märkte waren verschwunden oder hatten auf die eine oder andere Weise in neuer Form und ohne Tiere überlebt. Die Viehtrift wurde nicht länger benötigt. Heutzutage waren nur noch Wanderer wie Guy hier anzutreffen und Radfahrer wie jene, denen er im Pub begegnet war, sowie Reiter. Gelegentlich und zum Ärger aller drei Gruppen raste ein destruktives Motorrad brüllend über die Hügel. Der Weg maß an seiner breitesten Stelle vielleicht drei Meter, und stellenweise wurde er so schmal, dass kaum mehr als zwei Leute nebeneinander hergehen konnten, ohne sich gegenseitig zu behindern. Guy klappte seine Landkarte auf. Der Wind, wie um zu beweisen, dass er immer noch genug Kraft hatte, erfasste sie und zerrte daran, sodass sie in seiner Hand flatterte und er nicht lesen konnte. Einen Moment drohte sie sich loszureißen. Er hockte sich mit der Karte hin und breitete sie auf dem Boden aus. Ein weiterer Regentropfen fiel mitten darauf, während er sie mit den Händen auf dem Boden festhielt. Die Ortschaft Lower Stovey war der nächstgelegene Weiler, doch sie war noch wenigstens drei Kilometer entfernt und bedeutete einen Umweg. Außerdem war es der Ort, wo diese Cheryl aus dem Pub wohnte. Er wusste nicht, zu welchen Zeiten sie arbeitete, doch wahrscheinlich hatte sie am Nachmittag frei, und er verspürte nicht den Wunsch, ihr noch einmal zu begegnen. Er fragte sich, wie sie zur Arbeit und wieder nach Hause kam, und er meinte sich undeutlich an einen Motorroller zu erin nern, der an der Seite des Pubs geparkt hatte. Doch es gab einen zweiten Zufluchtsort. Unmittelbar hinter dem Kamm des Hügels musste ein Weiler namens Stovey Woods zu sehen sein. Hastig faltete Guy seine Karte zusammen und zerknitterte sie dabei noch mehr, dann steckte er sie in den Rucksack, schlang sich die Tragriemen über die Schultern und zog sich das wasserdichte Cape über den Kopf und den Rucksack. Der Regen fiel inzwischen heftiger, und dicke Tropfen klatschten ihm ins Gesicht und gegen die nackten Beine. Staub wirbelte auf, als die Tropfen auf den noch trockenen Boden prallten. Langsam verschmolzen die einzelnen Tropfen miteinander, während der Boden seinen Durst stillte. Bald schon würden sich die Tropfen in Pfützen sammeln und das Erdreich in Schlamm verwandeln. Guy marschierte entschlossen los. Er überquerte den Kamm und wanderte auf der anderen Seite auf den dunklen Saum zu, der den Waldrand markierte, als er einen Blitz sah. Wie er es als Kind gelernt hatte, zählte er im Geiste die Sekunden. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig … Der Donnerhall rollte über das Land. Drei, vier Kilometer. Das Donnergrollen war kaum verklungen, als der nächste Blitz so grell über den Himmel zuckte, dass es Guy in den Augen schmerzte. Er spürte ein kurzes Hitzegefühl im Gesicht und dachte, meine Güte, das war ein verdammtes Stück näher! Er lief los, den Hügel hinunter. Gelerntes Wissen sagte ihm, dass er sich nicht unter einem Baum unterstellen sollte, solange ein Gewitter tobte. Guy hoffte, dass das nur für offenes Land galt. In einem Wald war die Chance, dass der Blitz ausgerechnet in den Baum schlug, unter dem man sich untergestellt hat te, um einiges geringer. Je näher er dem Waldrand kam, desto mehr erschien er ihm als dunkle, undurchdringliche Masse. Er spürte eine atavistische Unruhe in sich aufsteigen. Der Wald war stets ein Ort gewesen, in dem man sich fürchten musste, heimgesucht von Elfen, Banditen und wilden Tieren. Heutzutage doch nicht mehr, tröstete sich Guy. Nicht in unserem modernen Zeitalter, wo wir uns befreit haben von mittelalterlichem Entsetzen. Keine Elfen, keine Hexen, hoffentlich keine Banditen und keine …

»Höllenzahn!«, hörte Guy sich ausrufen.

»Was um alles in der Welt ist denn das?« Irgendetwas, irgendein Tier, hatte am Waldrand im hohen Gras gelegen. Bei Guys Näherkommen erhob es sich. Zuerst meinte Guy, es wäre ein großer Hund, doch die dunklen Umrisse stimmten absolut nicht für einen Hund. Vielleicht eine Ziege? Unmöglich – nein, es war ein kleines Reh, ein Muntjakhirsch. Guy lachte erleichtert auf. Der Muntjak, aufgeschreckt durch Guys Eintreffen, trottete mit angelegten Ohren in die Deckung der Bäume. Guy folgte dem Tier. Der Weg, die alte Straße, führte mitten durch den Wald. Dieser Teil der Wälder gehörte der britischen Forstbehörde. Es waren Kiefernwälder. Zu beiden Seiten des alten Weges gab es eine grasbewachsene Bankette mit einem sich anschließenden tiefen Graben, bevor die Bäume anfingen. Guy krabbelte durch den Graben zur Rechten und stolperte in die Dunkelheit – und Trockenheit – unter den Reihen gerader, einförmiger Stämme. Der Nadelteppich unter seinen Füßen war weich und fühlte sich schwammig an. Der Geruch nach Harz lag so schwer in der Luft wie Weihrauch in der Kirche nach einer Messe. Auch sonst herrschte die Stille einer Kathedrale – als hielte alles den Atem an und wartete auf den Moment der Erleuchtung. Von dem Muntjak war nirgendwo eine Spur zu sehen. Er konnte ihn nicht hören. Er hörte nicht einmal das Knirschen seiner eigenen Schritte. Er hörte überhaupt nichts außer dem lauten Prasseln der Regentropfen oben in den Baumkronen. Zwischen den Stämmen führte ein Pfad hindurch, und Guy folgte ihm automatisch. Der Weg war schmal und offensichtlich ein Wildwechsel, nicht von Menschen gemacht. Er war gewunden wie keine römische Straße, wand sich links herum um diesen und rechts herum um jenen Baum und zwang ihn zu Manövern, die er mit Bauerntänzen assoziierte. Gelegentlich vernahm er ein leises Rascheln, das nicht vom Regen stammte, irgendwo oben in den Baumkronen. Eine Taube vielleicht oder ein Specht. Genau wie er hatten die Vögel ihre Aktivitäten eingestellt und warteten still darauf, dass der Regen aufhörte und das Leben seinen normalen Lauf nehmen konnte. Voraus lag eine Art Lichtung. Aus Neugier hielt er darauf zu, nur um zu sehen, was es damit auf sich hatte, nicht, um hinaus in den Regen zu treten. Am Rand der Lichtung blieb er stehen. Er stand auf einer Art Wall. Er fiel steil nach unten, und am Boden, in der Lichtung, wuchs ein Gewirr aus Brombeeren, Nesseln, Bärenklau, Ampfer und kleinen Schösslingen einheimischer Bäume, die aus vom Wind hierher gewehten oder von Vögeln verteilten oder vom Rücken von Rotwild abgestreiften Samen gekeimt hatten. Dahinter befand sich eine weitere Böschung und vervollständigte die untertassenartige, kreisrunde Vertiefung. Guy stand unter der vorderen Reihe von Kiefern, die die Lichtung umgaben, und betrachtete das natürliche Amphitheater. Er stellte sich vor, auf ein Schauspiel hinunterzusehen, irgendeine Show. Neugierig geworden, was die Natur der Böschung anging, kratzte er ein wenig mit dem Absatz seines Stiefels im Dreck. Hier eine Ausgrabung durchzuführen wäre eine größere archäologische Aufgabe. Er nahm sich vor, in der Bibliothek nachzulesen, um was es sich handeln konnte, sobald er wieder zu Hause war. Herausfinden, ob irgendjemand diese Stelle bereits beschrieben hatte und ob es irgendwelche Theorien dazu gab. Der Regen ließ nach. Seine Neugier war inzwischen stärker als sein erster Instinkt, trocken zu bleiben. Er stieg vorsichtig die Böschung hinunter. Der Untergrund war locker und instabil. Wurzeln ragten aus dem Erdreich und bildeten gefährliche Schlingen. Nesseln streiften gegen seine nackten Beine und hinterließen schmerzende, juckende Quaddeln. Brombeeren zerkratzten seine ungeschützte Haut. Die Natur schien sich gegen ihn zu verbünden, als wollte sie den Möchtegern-Eindringling vertreiben. Der Muntjak musste sich hier versteckt haben, doch er hatte das Tier nicht bemerkt. Jetzt sah oder witterte der Muntjak ihn. Ohne Vorwarnung sprang er aus dem Unterholz, jagte auf der anderen Seite der Lichtung den Hang hinauf und verschwand unter den Bäumen. Verblüfft, obwohl er wusste, was es war, hielt Guy inne, rutschte aus, spürte, wie der Boden unter ihm nachgab, und fiel. Er purzelte Hals über Kopf und ruderte vergeblich nach etwas, woran er sich festhalten konnte, durch die Brombeeren und Nesseln, bis er auf dem Bauch zu liegen kam und mit dem Gesicht in der verrottenden Vegetation landete. Es roch faulig nach stehendem Wasser, das sich unten im Becken gesammelt hatte. Er bewegte sich vorsichtig, einen Arm und ein Bein nach dem anderen, während er seinen Leib nach Brüchen und Prellungen abtastete. Alles schien okay zu sein. Er hatte Glück gehabt, doch er würde noch ein paar Tage lang einen schmerzenden Rücken haben vom Rucksack, den er sich auf dem Weg nach unten immer wieder ins Kreuz gerammt hatte. Er erhob sich wieder und wollte sich umwenden, um auf dem gleichen Weg zurückzugehen, auf dem er hergekommen war. Dann bemerkte er, dass er bei seinem Sturz das Gewirr von Grün zerteilt hatte, das den Eingang zu einem unterirdischen Bau in der Seite der Böschung verdeckte. Zu groß, dachte er, für ein Kaninchenloch. Ein Fuchs vielleicht, oder sogar der Eingang zu einem Dachsbau. Er kniete vor der Öffnung nieder, kratzte ein wenig Dreck weg und spähte hinein. Schaler, fauliger Gestank schlug ihm entgegen.

»Urrgh!«, murmelte er und wollte den Kopf zurückziehen, als sein Blick auf ein Objekt kurz hinter dem Eingang fiel. Guy starrte es für einen Moment an. Dann hob er es auf, untersuchte es von allen Seiten, stieß einen leisen Pfiff aus und legte es vorsichtig wieder zurück. Er setzte sich auf, schlüpfte aus seinem Cape, nahm den Rucksack von den Schultern und kramte darin, bis er seine Taschenlampe gefunden hatte. Dann legte er sich erneut auf den Bauch und leuchtete mit dem Strahl der Lampe in den Tunnel, ohne auf die brennenden Nesseln und die kratzenden Brombeeren zu achten. Die Höhle verlief ein Stück weit zwischen Wurzeln hindurch, bevor sie nach rechts abbog, doch der Lichtstrahl der Taschenlampe erfasste einen wirren Haufen von Objekten unterschiedlicher Größen und Formen in der Nähe des Eingangs. Guy legte die Taschenlampe hin und streckte den Arm so weit in das Loch, wie er konnte, bis seine tastenden Finger etwas Kleines, Trockenes fanden. Er hatte das Gesicht gegen den feuchten, moderigen Boden über dem Loch gedrückt. Erde löste sich aus dem Boden und fiel ihm in die Augen und die Haare. Er merkte es kaum. Schließlich hatte er jedes einzelne der Objekte aus dem Loch gezogen, das er erreichen konnte. Sie waren gelblichbraun und schienen bereits eine Weile dort zu liegen. Einige waren zerbrochen. Eins oder zwei zeigten Spuren von Zähnen, auch wenn sie alt waren. Guy hatte nicht den geringsten Zweifel, was sie waren. Menschliche Knochen. Nachdem er alles eingesammelt hatte, was er konnte, zückte er sein Mobiltelefon und wählte die Notrufnummer.

»Kein Netz«, informierte ihn das Display pflichtschuldig. Er fluchte leise. Er war an einem toten Fleck. Ein unglücklicher Ausdruck, doch passend. Er suchte in seinem Rucksack nach etwas, worin er die Knochen einwickeln konnte. Das einzige Papier, das er bei sich hatte, war die Karte, also opferte er sie. Dann kletterte er die Böschung hinauf und folgte dem Wildwechsel bis zur alten Viehtrift, dann trottete er zwischen den Bäumen hindurch, bis er die andere Seite des Walds erreicht hatte. Dort probierte er sein Handy erneut. Diesmal war er erfolgreich.

»Welchen Notdienst wünschen Sie?«, erkundigte sich eine Stimme.

»Die Polizei«, verlangte Guy. Eine Ambulanz konnte für den Besitzer der Knochen bestimmt nichts mehr tun. Er wurde mit der Polizei verbunden. Er nannte seinen Namen und seine Adresse, erklärte, dass er auf einem Wanderurlaub war und dass er menschliche Überreste gefunden hatte, nachdem er eine Böschung hinuntergestürzt war. Die neue Stimme, blechern und ein wenig müde, erkundigte sich, wo er sich gegenwärtig befand. Stovey Woods, sagte er, beziehungsweise dicht davor.

»Und diese Knochen, Sir«, fragte die Stimme,

»Sie sind soeben darüber gestolpert, sagen Sie?«

»Nein«, verbesserte ihn Guy.

»Ich sagte, ich bin hingefallen. Ich bin eine Böschung hinuntergerollt und habe die Nesseln zerdrückt, die den Eingang zu dem Bau getarnt haben.«

»Bau?«, fragte die Stimme.

»Dann handelt es sich doch wohl höchstwahrscheinlich um Tierknochen, Sir, meinen Sie nicht auch?«

»Nein, meine ich nicht«, widersprach Guy.

»Wenn ich das glauben würde, hätte ich nicht bei Ihnen angerufen.«

»Die Leute glauben oft, sie hätten die Knochen von Menschen gefunden«, sagte die Stimme.

»Doch es sind fast immer die Knochen eines Tiers. Das Mittagessen eines Fuchses. Sind diese Knochen klein? Könnten sie von einem Kaninchen stammen?«

»Nein!«, stieß Guy hervor. Allmählich hielt er die Stimme am anderen Ende der Leitung für die widerlich selbstzufriedenste, die er jemals gehört hatte.

»Einige sind beschädigt, einige sind unvollständig, und eine Menge fehlen. Aber unter den Knochen sind eine Klavikula, Teile von zwei Rippen, drei oder vier Vertebrae, eine zernagte Tibia und eine vollständige Mandibula mit nahezu sämtlichen Zähnen darin. Einige der Zähne zeigen zahnärztliche Behandlungen. Das sollte Ihnen weiterhelfen. Unglücklicherweise fehlt der Rest des Schädels. Natürlich könnten weiter hinten im Tunnel noch mehr Kno chen liegen.« Schweigen am anderen Ende der Leitung. Guy meinte zu hören, wie die Person hinter vorgehaltener Hand mit jemandem redete. Eine neue Stimme ertönte, tiefer diesmal, befehlsgewohnter. Wenigstens klang sie nicht selbstgefällig. Sie klang misstrauisch.

»Das ist kein Scherz, Sir?«, fragte die Stimme.

»Absolut nicht!« Guy hatte Mühe, seine Frustration zu kontrollieren.

»Ich frage Sie doch nur, was ich tun soll! Soll ich die Knochen zur nächsten Polizeiwache bringen, oder soll ich warten, bis Sie jemanden hier herausgeschickt haben? Ich weiß allerdings nicht, wie Sie herkommen. Ich bin auf der alten Viehtrift, wenn Ihnen das weiterhilft.«

»Wir können Sie finden, aber Sie werden verstehen, dass wir nicht den ganzen Weg dorthin gerufen werden wollen, wenn wir einem Phantom nachjagen. Ich will Sie keineswegs beschuldigen, Sir, aber Sie könnten sich irren. Diese zahnärztlichen Arbeiten, wie Sie es beschreiben – es könnte sich um gewöhnliche Verfärbungen handeln. Alte Knochen nehmen manchmal eine merkwürdige Farbe an. Gibt es vielleicht sonst noch etwas, Sir, das Sie zu der Annahme führt, dass es sich definitiv um menschliche Knochen handelt?«

»Sie wollen wissen, warum ich glaube, dass sie menschlich sind?«, heulte Guy.

»Wie oft soll ich es Ihnen denn noch sagen! Weil ich sie erkenne!«

»Nicht viele Menschen wären dazu im Stande, Sir. Wieso sind Sie sich dessen so sicher?«

»Weil«, sagte Guy schwer atmend vor Zorn,

»weil ich Arzt bin!«

»Das ist es«, sagte Alan Markby und bemühte sich, nicht so be stürzt zu klingen, wie er sich in Wirklichkeit fühlte. Neben ihm im Wagen blätterte Meredith in den Broschüren des Immobilienmaklers und fand diejenige, nach der sie gesucht hatte.

»Ehemaliges Vikariat«, las sie laut.

»Frühes neunzehntes Jahrhundert. Fünf Zimmer, drei Salons, steingeflieste Küche. Anbauten. Einige Renovierungsarbeiten erforderlich.« Beide spähten durch die Windschutzscheibe auf das Haus.

»Eine Menge Renovierungsarbeiten«, sagte sie zweifelnd.

»Ein hübscher großer Garten«, wandte er ein. Sie stiegen aus dem Wagen und öffneten das quietschende Tor. Ein Weg, der früher einmal gekiest gewesen und heutzutage beinahe völlig mit Unkräutern zugewachsen war, voll regenwassergefüllter Schlaglöcher, führte zu einem Eingang mit einer Tür, die so verkratzt war, als hätte jemand oder etwas daran gescharrt. Markby drückte den Klingelknopf. Als Antwort ertönte ein wütendes Bellen aus dem Innern des Hauses. Dann folgten das Geräusch von tappenden Pfoten auf Parkett und eine Frauenstimme. Es klang, als wäre eine Art Balgerei im Gang. Schließlich wurde eine Tür im Innern zugeschlagen, und begleitet von angestrengtem Atem öffnete sich die Vordertür knarrend. Die Frau, die vor Markby und Meredith erschien, war außergewöhnlich groß, obwohl sie flache Schuhe über dunklen, dicken Wollstrümpfen trug. Das unordentliche graue Haar war beinahe schulterlang, und ihre eckigen Gesichtszüge frei von jeglichem Make-up. Sie trug jedoch Schmuck in der Form baumelnder Ohrringe, die aussahen wie selbst gemacht, jeder einzelne eine Traube bunter Glaskügelchen. Sie legte eine Hand an den Türrahmen und stützte sich ab, während sie Markby mit einem direkten Blick fixierte und

»Es ist Roger!« rief.

»Nein, es ist, ich meine, ich bin Alan Markby«, antwortete Markby verblüfft.

»Ich habe angerufen und einen Besichtigungstermin ausgemacht.«

»Ja, ich weiß, wer Sie sind!«, entgegnete sie. Inzwischen war sie wieder zu Atem gekommen und nahm ihre Hand vom Türrahmen.

»Ich meinte meinen Hund, Roger. Er macht jedes Mal einen Heidenaufstand, aber in Wirklichkeit ist er ein dummes altes Ding. Er würde niemandem etwas tun. Er mag Besuch, aber er springt die Leute an. Nicht jeder mag das. Also habe ich ihn weggesperrt.« Sie deutete auf eine Tür, die aussah, als führte sie zu einer Toilette. Wie auf Kommando ertönte hinter der Tür ein schwermütiges Jaulen.

»Roger mag es nicht, wenn er außen vor gelassen wird«, sagte seine Herrin.

»Möchten Sie eintreten?« Sie traten misstrauisch über die Schwelle. Roger winselte und kratzte an der Tür, hinter der er gefangen war. Die Tür klapperte in den Angeln.

»Zu groß für mich«, sagte die Frau.

»Was denn?«, flüsterte Meredith ironisch in Alans Ohr.

»Das Haus? Oder Roger, der Hund?« Er bedeutete ihr mit einer Grimasse zu schweigen, doch die Frau hatte es nicht gehört.

»Ich kann mir den Unterhalt für dieses verdammte Haus nicht mehr leisten. Das ist der Grund, aus dem ich verkaufe, und deswegen wird es nicht teuer.« Markby bemühte sich, in Erinnerung an den Preis, seine Skepsis zu verbergen, indem er höflich fragte:

»Sie sind Mrs. Scott?«

»Natürlich bin ich Mrs. Scott. Aber das können Sie ja nicht wissen, nicht wahr? Ich bin die Haushälterin. Na ja, eigentlich nicht!« Sie stieß ein überraschend tiefes, bellendes Lachen aus. Markby bemerkte erneut Merediths Blick, und sie grinsten sich verstohlen zu. Mrs. Scott führte sie mit wehendem Rock nach drinnen. Sie trug einen handgestrickten Pullover. Markby fragte sich, ob er möglicherweise ohne Strickmuster gearbeitet worden war. Er war kein Experte in solchen Dingen, doch das Kleidungsstück hatte eine Aura bizarrer Improvisation an sich. Es war gestreift in Schichten von Rosa, Navyblau und Orange. An verschiedenen Stellen endete die Farbe mitten in der Reihe, und die nächste fing an, als wäre der Strickerin an dieser Stelle die Wolle ausgegangen. Vorder- und Rückenteile waren rechteckig, und die Ärmel in plumpem Raglan-Stil angestrickt. Sie waren röhrenförmig und ohne Bündchen. Der Pullover und die Ohrringe erweckten auf jeden Fall einen farbenfrohen Eindruck.

»Das hier ist der große Salon«, sagte Mrs. Scott und stieß eine Tür auf. Sie trat beiseite, damit Markby und Meredith eintreten konnten. Es war ein großes Zimmer mit ansehnlichem Stuck an der Decke, doch es schien seit Jahren nicht mehr gestrichen worden zu sein. Die Tür war vergilbt, früher vielleicht einmal weiß gewesen, und um die Klinke herum dunkel und schmierig. Die Paneele waren ebenfalls verkratzt. Überall lag dicker Staub. Ein paar hübsche Silberstücke auf einem Tablett waren schwarz angelaufen vor Vernachlässigung. Ein altes Polstersofa wölbte sich an den falschen Stellen, ein wenig wie Mrs. Scott selbst, und aus Löchern im Bezug kamen derbe, glänzende Pferdehaare. Überall hafteten Hundehaare. Roger hatte seine Spuren hinterlassen. In der Luft hing ein unterschwelliger moschusähnlicher Geruch, ein wenig wie aufgehender Hefeteig ge mischt mit nasser Wolle.

»Sie haben Zentralheizung«, bemerkte Alan. Er starrte zweifelnd auf den riesigen alten Heizkörper an der Wand.

»Wir haben Zentralheizung, aber sie funktioniert nicht«, sagte Mrs. Scott aufrichtig.

»Sie braucht einen neuen Kessel.« Die übrigen Zimmer waren mehr oder weniger im gleichen Zustand. Eine kleine schmuddelige Kammer, die Mrs. Scott großartig

»das Arbeitszimmer« nannte, war voll gestopft mit viktorianischem Mobiliar, von dem einiges aussah, als wäre es aus einem anderen Zimmer des Hauses herbeigeschafft und hier abgestellt worden. Meredith, stets neugierig auf Bücher, hatte sich zur Wand geschoben und spähte in ein riesiges Regal aus Eiche mit Glastüren, das voll gestopft war mit ledergebundenen Bänden. Markby überflog kurz die Bücherrücken über Merediths Schulter hinweg. Es schien sich in der Hauptsache um theologische Werke zu handeln. Das untere Regal jedoch enthielt eine komplette Ausgabe der Victoria County History sowie einen fetten Folianten mit dem Titel Mensch und Mythos: Das Erbe der Vorzeit. An der anderen Wand thronte ein massiges Kreuz aus Ebenholz und Messing über einem Eichenschreibtisch. Auf dem Schreibtisch lagen ein Terminkalender, auf dem sich weißer Staub gesammelt hatte, sowie eine Meerschaumpfeife, die auf einem alten, abgegriffenen Tabaksbeutel ruhte. In der Luft hing noch immer das schwache Aroma von Pfeifenrauch, das die Möbel im Verlauf vieler Jahre absorbiert hatten. Markby spürte, wie ihm ein Kribbeln über den Rücken lief, als hätte ihn die Hand eines Geistes berührt. Gütiger Gott, dachte er. Er sieht aus wie damals. Er sieht immer noch genau so aus wie damals.

»Sie benutzen dieses Zimmer heutzutage nicht oft, oder?«, hörte er sich selbst fragen.

»Es ist genauso, wie er es zurückgelassen hat«, lautete Mrs. Scotts Antwort.

»Ja, das sehe ich«, sagte Alan Markby und spürte den plötzlichen, überraschten Blick, den Meredith ihm zuwarf. Er hätte es ihr erklären sollen, bevor sie hergekommen waren. Jetzt mussten Erklärungen warten bis später. Die Küche war riesig, eine Kaverne von einem Zimmer, noch immer mit dem alten gusseisernen Herd ausgestattet, rostig und narbig, neben einem moderneren, fettbespritzten Gaskocher. Oben hatte sich jemand die Mühe gemacht, das große Schlafzimmer mit großzügigen Mengen himmelblauer Farbe und extrem wenig Talent mit dem Pinsel aufzuhellen.

»Ein hübsches Zimmer, finden Sie nicht?«, fragte Mrs. Scott.

»Mit einem hübschen Ausblick auf Stovey Woods. Kommen Sie, werfen Sie einen Blick aus dem Fenster.« Sie folgten ihr zu einem Schiebefenster, das sie mühsam nach oben schob.

»Es klemmt ein wenig. Die meisten Fenster hier klemmen.« Sie sahen nach draußen. Sie konnten die Straße sehen, die durch die Ortschaft führte und sich der fernen dunklen Masse des Waldes entgegenwand.

»Wir liegen in einer Sackgasse«, sagte Mrs. Scott.

»Kein Durchgangsverkehr. Ein hübsches, ruhiges Dorf ist das hier. Niemand kommt vorbei, der hier nichts zu suchen hätte. Sehr beliebt bei Leuten, die sich Wochenendhäuser zulegen. Wenn sie nicht da sind, sieht man kaum einen Wagen auf der Straße. Oh, ich will verdammt sein. Jetzt sehe ich wohl aus wie eine Lügnerin, nicht wahr?« Ein Wagen war aufgetaucht, noch während sie geredet hatte, und nicht irgendein Wagen – es war ein Streifenwagen der Polizei. Er fuhr langsam vorüber, als wäre der Fahrer nicht ganz sicher, in welche Richtung er wollte. Markby beugte sich nach draußen, so weit er konnte, um dem Wagen hinterherzusehen, der sich in Richtung Wald entfernte.

»Was wollen die Cops hier draußen, was meinen Sie?«, erkundigte sich Mrs. Scott.

»Ob vielleicht jemand im Wald versehentlich seine Schrotflinte abgefeuert hat? Ich hab jedenfalls nichts gehört. Wenn überhaupt, dann hat er sowieso nur Tauben gejagt. Nichts, worüber sich die Polizei den Kopf zerbrechen müsste. Oder vielleicht war es ein Wilderer?«

»Alan?« Meredith berührte Markby am Arm. Er zog widerwillig den Kopf ein und sah sie an.

»Was denn? Oh, ja, sicher. Könnte alles Mögliche sein. Nun, gibt es sonst noch etwas, das wir uns ansehen sollten, Mrs. Scott?«

»Nur die Toilette unten, wo Roger ist.«

»Ich denke, wir lassen sie aus«, sagte Markby hastig.

»Wäre es vielleicht möglich, sich ein wenig im Garten umzusehen?«

»Nur zu, tun Sie sich keinen Zwang an.« Es war offensichtlich, dass sie nicht beabsichtigte, Markby und Meredith zu begleiten. Als sie über den Weg zwischen den verwilderten Blumenbeeten und den überwucherten Gemüsefeldern hindurchschlenderten, stellte Meredith die Frage, die ihr seit der Besichtigung des Arbeitszimmers auf der Zunge gelegen hatte.

»Warum hast du mir nicht erzählt, dass du schon einmal in diesem Haus gewesen bist?« Er zögerte.

»Es ist lange her, Meredith. Damals war es immer noch ein Vikariat, und ich hatte dienstlich dort zu tun. Ermittlungen, du weißt schon. Routineangelegenheiten.«

»Warst du vielleicht bei Mr. Scott?«

»Was? O nein. Der Vikar hieß Pattinson.«

»Ist das der Grund, warum du wolltest, dass wir uns dieses Haus ansehen? Weil du es bereits kanntest? Warum hast du es nicht gesagt?«

»Hör mal … Ich kenne dieses Haus nicht, Meredith. Ich wurde damals nicht herumgeführt. Ich wurde auf direktem Weg in das Arbeitszimmer des Vikars gebracht, und nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, bin ich auf dem gleichen Weg wieder gegangen. Ich habe kein einziges anderes Zimmer gesehen. Ich weiß …«, fügte er hinzu.

»Es ist in einem ziemlich verwahrlosten Zustand.« Sie gab sich größte Mühe, optimistisch zu erscheinen.

»Der Salon ist wunderschön und groß. Kostspielig zu heizen, sicher. War das Haus damals in einem besseren Zustand, als du hier gewesen bist?«

»Wie ich dir schon sagte, ich habe nur die Eingangshalle und das Arbeitszimmer zu Gesicht bekommen, mehr nicht. Es sah alles ganz in Ordnung aus. Nicht, dass ich damals großartig darauf geachtet hätte. Ich bin ziemlich sicher, dass dieses Bücherregal und der Schreibtisch schon damals dort gestanden haben, genau wie das Kruzifix an der Wand, nur, dass es damals poliert und sauber gewesen ist.«

»Sie ist eine nette Frau. Ein wenig spleenig, aber nett.« Markby blieb stehen und wandte sich zu Meredith um. Ihr Gesicht war unter den zerzausten braunen Haaren verborgen. Sie hatte die Hände in die Taschen ihrer Jeans geschoben und spielte mit der Fußspitze ihres Turnschuhs mit einem abgebrochenen Stück von irgendwelchem Zierrat, das auf dem Boden lag. Er nahm sie am Oberarm und sah sie an.

»Tu doch nicht so. Du machst, dass ich mich schuldig fühle. Es war ein Fehler herzukommen, okay? Ich weiß, dass es dir nicht gefällt. Sag es ein fach, und gut.«

»Na ja, ich – also schön.« Sie warf das Haar in den Nacken, nahm die Hände aus den Taschen und begann an den Fingern abzuzählen.

»Erstens, die Heizung ist kaputt. Zweitens, die Fenster klemmen, und drittens würde ich bestimmt kein Geld verlieren, wenn ich wette, dass mit den Wasserleitungen auch nicht mehr alles zum Besten steht. Viertens stehen auf der Haben-Seite schöne große Zimmer, einige wunderschöne Möbelstücke aus der Zeit und der Stuck an den Decken, und der Garten ist genau das, wovon du geträumt hast, ich weiß. Trotzdem …« Sie seufzte.

»Das Dorf sieht ein klein wenig, wie soll ich es sagen, tot aus. Es tut mir Leid, Alan. Vielleicht würde es dir ja gefallen, und ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mir genauso geht. Aber es gefällt mir nicht … Du hast schließlich gefragt«, beendete sie ihre kleine Rede defensiv. Sie nahm seine Hand und drückte sie beruhigend.

»Wir finden schon noch das richtige Haus für uns beide, wenn wir lange genug suchen.«

»Und dann heiraten wir?«

»Und dann heiraten wir. Ich mache keinen Rückzieher, Alan.« Sie blickte besorgt unter ihrem dichten Pony hervor zu ihm auf.

»Okay«, sagte Markby und küsste sie.

»Nur, damit ich sicher bin – es liegt nicht an mir. Es ist das Haus.«

»Es liegt nicht an dir. Das Haus kommt mir vor wie Draculas Wochenendlaube.« Er lachte auf, und sie gingen zum Tor.

»Ich frage mich, was dieser Streifenwagen hier wollte«, sinnierte Markby.

»Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen müsstest, Superintendent. Was glaubst du – weiß Mrs. Scott, dass du bei der Polizei bist?«

»Ich hab es ihr nicht erzählt, als ich angerufen habe. Ich gehe nicht rum und verkünde überall, was ich mache. ›Hey, ich bin Polizist!‹ Die Leute mögen es nicht besonders.« Sie stiegen in den Wagen.

»Wir könnten vielleicht«, begann Markby vorsichtig,

»wir könnten vielleicht durch den Wald spazieren fahren und uns umsehen?«

»Im Wald oder nach dem, was der Streifenwagen dort vorgefunden hat?«

»Beides.«

»Nur zu, fahr hin«, sagte sie resigniert.

»Du gibst sowieso keine Ruhe, bevor du es nicht herausgefunden hast. Aber zähl nicht auf mich. Ich gehe mir die Kirche ansehen, falls sie offen ist. Ich warte dort auf dich. Hol mich auf dem Rückweg von deiner Spazierfahrt wieder ab.«

KAPITEL 2

ALS MARKBYS Wagen sich dem Wald näherte, wurde die Straße – oder das, was man als Straße bezeichnen musste – schlimmer. Nur magere Reste der ursprünglich geteerten Oberfläche waren intakt; das Asphaltband war durchsetzt von Rissen und Sprüngen, in denen Unkraut wuchs. Die Ränder waren weggebrochen, und der Wagen ratterte und klapperte, während Markby die Mitte der Straße entlangsteuerte und Pfützen durchfuhr, die nach dem nachmittäglichen Regenguss voll Wasser standen. Markby hoffte, dass ihm der Streifenwagen nicht entgegenkam. Hier und da waren die Trockenmauern eingestürzt, die die Straße säumten, und Mini-Lawinen aus gelbem Naturstein waren bis auf die Fahrbahn gerollt. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie beiseite zu räumen. Niemand, schätzte Markby, kam in einem Wagen hier entlang. Was denn, niemals? Nun ja, kaum jemals.

»I am the captain of the Pinafore …«, summte er unmelodisch vor sich hin. Er war so taub für Töne, wie es nur ging, deswegen machte es keinen Unterschied. Er bedauerte sein mangelndes musikalisches Gehör. Gerne hätte er sich mehr an Musik erfreut. Er mochte Gilbert und Sullivans Operetten, aber mehr wegen der Lyrik statt der Melodien. Er verstummte und dachte zurück an die Hausbesichtigung. Das war ein bemerkenswerter Fehlschlag gewesen. Vielleicht, sinnierte er, hätte er Meredith gegenüber erwähnen sollen, dass er schon einmal in diesem Haus gewesen war. Doch es lag so lange zurück, und wie er ihr zu erklären versucht hatte, der einzige Raum, in dem er gewesen war, war dieses klaustrophobische Arbeitszimmer. Doch es war kein unfreundliches Haus gewesen, wenn er sich recht entsann. Der Vikar, Pattinson, war ein älterer Mann gewesen, ein wenig zerstreut und vage in seinen Aussagen, doch scharfzüngig, wenn es darum ging, seine Gemeinde zu verteidigen. Das Buch, das damals aufgeschlagen auf dem Schreibtisch des Vikars gelegen hatte, war ein massiver Wälzer über Mythen und Sagen gewesen, wenn er sich recht entsann, und heute hatte er es im Bücherregal wieder gesehen.

»Ich interessiere mich ein wenig dafür«, hatte der Vikar entschuldigend erklärt. Wenn man in Lower Stovey lebte, musste man derartige Interessen entwickeln, um sich die Zeit an den langen Abenden zu vertreiben. Markby musste einräumen, dass die Ortschaft noch abgelegener war, als er sie in Erinnerung hatte. Sicher hatten damals mehr Menschen hier gelebt, als er hier gewesen war. Er hatte Kinder gesehen, die von der Dorfschule nach Hause gelaufen waren. Frauen hatten vor einem Geschäft gestanden und Schwätzchen gehalten. Irgendjemand hatte eine Schusterei in einem heruntergekommenen Anbau neben seinem Cottage gehabt. Vielleicht war der Anbau inzwischen zusammengefallen, jedenfalls war heute nichts mehr von einer Schusterei zu sehen. Genauso wenig wie von einer Schule, einem Geschäft und natürlich von Kindern, denn junge Familien zogen von hier weg angesichts des Mangels an letzten beiden. Zurückgeblieben war eine verlassene Ödnis von einem Dorf. Eine bewohnte Ödnis aus Wochenendhäusern und wohlhabenden Pendlerpärchen mit zwei Wagen, nichtsdestotrotz eine Ödnis. Sie hatten eine Abmachung, er und Meredith. Sie würden ein Haus finden, und dann würden sie heiraten. Im Moment wohnte Markby in einer viktorianischen Villa in Bamford und sie in einem Reihenendhaus. Sie hatten versucht, in Markbys Haus zusammenzuleben, doch es hatte nicht funktioniert. Sie war eisern, dass es in ihrem Haus ebenfalls nicht funktionieren würde. Es war viel kleiner als Markbys. Sie würden sich ständig im Weg herumstehen. Ja, die Antwort war eindeutig, nach einem neuen Haus zu suchen, doch wo sollten sie eins finden, das beiden gefiel? Bisher hatten sie fünf Häuser besichtigt. Nicht viele, vermutete Markby. Andererseits genug, um entmutigt zu sein. Aus diesem Grund hatte er seine Hoffnungen eigentlich an das alte Vikariat in Lower Stovey geknüpft. Schon der erste Anblick heute hatte seiner lebhaften Zuversicht ein jähes Ende bereitet. Er machte Meredith keinen Vorwurf, dass es ihr nicht gefiel. Er wünschte nur, er könnte den heimlichen Verdacht endlich unterdrücken, dass sie vielleicht einen anderen Grund hatte, als die offensichtlichen Mängel des Hauses. Vielleicht, so dachte er, vielleicht spielt sie ja auf Zeit. Er sagte sich, dass dieser Gedanke unwürdig war und dass er ihn geradewegs von sich weisen sollte. Er war absurd. Und doch wusste er auch, dass der Gedanke zu heiraten Meredith nervös machte. Es hatte lange genug gedauert, ihr das Ja abzuringen. Er seufzte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als zum lokalen Standesamt zu gehen und auf der gestrichelten Linie zu unterschreiben. Sie hatte sich zu guter Letzt endlich bereit erklärt, dasselbe zu tun. Das Einzige, was sie noch aufhielt, war das Fehlen eines geeigneten Hauses, in dem sie zusammenleben konnten und wollten. Unvermittelt trat er auf die Bremse und starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen. Die Straße war zu Ende. Es hätte ihn eigentlich nicht überraschen dürfen. An der Hauptstraße, wo die Abzweigung nach Lower Stovey ausgeschildert war, hatte ein großes Schild verkündet, dass die Straße im Dorf endete. Keine Durchfahrtsstraße. Doch die Abruptheit, mit welcher das Asphaltband aufhörte, war dennoch ziemlich verblüffend. Vor ihm erstreckte sich eine Wiese aus hohem Gras mit einem Tor. Hinter dem Tor fingen die Bäume an. In der Stille der Umgebung wanderten seine Gedanken in der Zeit zurück. Zwanzig, nein, zweiundzwanzig Jahre. War es tatsächlich schon so lange her? Wenig hatte sich seit damals verändert. Es bedurfte nicht viel, um den dunklen Wald als bedrohlich und unheimlich zu empfinden, so hoch, wie er vor Markby aufragte, auch ohne die Erinnerung, die seine Fantasie beflügelte. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er hier gewesen war, genau an dieser Stelle, und auf die gleiche Landschaft vor sich gestarrt hatte. Die Erinnerung war so deutlich, so kristallklar, dass es ihm vorkam wie gestern, und die Emotionen hatten sich seit damals nicht verändert. Er hatte seit damals nie wieder an einem Ort gestanden, der in ihm – dem praktischsten und auf gewisse Weise fantasielosesten aller Männer – so sehr den Glauben an Magie geweckt hatte. Nicht an die wohlwollende Magie von Märchenfeen und gläsernen Schuhen, sondern die dunkle Magie geheimer Künste und alter Götter. Die Jahre seit damals waren mit erschreckender Geschwindigkeit vergangen. Was um alles in der Welt war in ihn gefahren, nach Lower Stovey zurückzukehren? Die Besichtigung eines Hauses, das möglicherweise interessant war? Oder die Eingebungen seines Unterbewusstseins, eine morbide Neugier, oder die alte, fatale Verlockung unvollendeter Angelegenheiten? Als er den Streifenwagen auf dem Weg in den Wald gesehen hatte, war sein Puls in die Höhe geschnellt, und er hatte den Nervenkitzel der Jagd gespürt und noch etwas, einen Anflug von etwas wie Erwartung, sogar Hoffnung. Hoffnung, dass ein altes Geheimnis vielleicht endlich enthüllt wurde. War es möglich, so fragte sich Markby, dass der Kartoffelmann nach so langer Zeit zurückgekehrt war? Markby war selbst vor zweiundzwanzig Jahren kein Fremder in dieser Gegend gewesen. Er hatte die alte Viehtrift schon damals gekannt, ja, er war als Teenager mit Freunden darauf gewandert. Er wusste, dass der Weg durch den Wald führte. Doch Lower Stovey selbst, das war ein neuer Ort für ihn gewesen, und der Kartoffelmann hatte ihn damals hierher geführt. Markby war damals frisch zum Inspector befördert worden, genau wie sein jüngerer Kollege David Pearce heute. Und wie bei Dave hatte sein neuer Rang unbequem auf seinen Schultern gelastet wie ein neuer Mantel. Er war begierig gewesen, sich hervorzutun, und fest entschlossen, keine Fehler zu begehen. Sein Superintendent war Pelham gewesen, ein älterer, gerissener alter Fuchs, missmutig wegen seiner näher rückenden Pensionierung.

»Es ist keine Schande, einen Fehler zu machen«, hatte Pelham zu Markby gesagt.

»Vorausgesetzt, Sie lernen daraus. Erst wenn Sie den gleichen Fehler wieder und wieder begehen und niemals etwas daraus lernen, sollten Sie sich selbst die Frage stellen, ob Sie sich für den richtigen Beruf entschieden haben.« Wie sich herausstellen sollte, hatte er im Verlauf der Jahre reichlich Fehler gemacht, auch wenn er zurückblickend immer noch nicht glaubte, dass er bei dem Fall damals einen begangen hatte. Doch selbst die Tatsache, dass er alles richtig gemacht und sich genau an die Vorschriften gehalten hatte, hatte damals nicht zum Erfolg geführt. Vielleicht war er zu jung gewesen und zu unerfahren, und vielleicht hatte er nicht gewagt, die Vorschriften beiseite zu lassen und nach seinem Gefühl vorzugehen. Er seufzte, als eine weitere Erinnerung auftauchte. Genau wie Dave Pearce war Markby damals frisch verheiratet gewesen. Er hoffte für Dave, dass dessen Ehe länger hielt, als Markbys eigene gehalten hatte. Vermutlich würde sie das. Dave und Tessa erweckten jeden Anschein eines gut zusammenpassenden Paares, das die stürmischen Meere der frühen Ehejahre gemeinsam meistern würde. Im Gegensatz zu Rachel und Markby. Ihr Boot war praktisch schon in der ersten stürmischen Bö gesunken. Und doch sehnte er sich danach, wieder verheiratet zu sein. Verheiratet mit Meredith. Was brachte ihn auf den Gedanken, dass er es, obwohl er bei seinem ersten Versuch so kläglich gescheitert war, diesmal besser machen würde? Vielleicht nur die Erinnerung an den alten Superintendent Pelham und seine schlichten Lebensweisheiten. Markby hoffte, dass er aus seinen Fehlern gelernt hatte. Vielleicht war es sogar bei einer Ehe so, dass erst Übung den Meister machte. Stovey Woods und der Kartoffelmann. Der erste Fall, den Markby in seinem neuen Rang ganz allein übertragen bekommen hatte.

»Sehen Sie zu, was Sie daraus machen, Alan«, hatte Pelham gepoltert.

»Wir müssen diesen Mistkerl irgendwie schnappen.« Doch zu Markbys großem Unbehagen hatten sie ihn nicht geschnappt. Und gleich sein erster Fall war ein Fehlschlag gewesen. So viel zu Omen. Glücklicherweise war Markby nicht abergläubisch, auch wenn er sich damals gefragt hatte, ob auf Stovey Woods vielleicht irgendein Fluch lag und nicht nur auf dem Kartoffelmann. Vielleicht war das der Grund, aus dem er Meredith gegenüber nicht erwähnt hatte, dass er schon einmal hier gewesen war. Er hatte seinen früheren Besuch in Lower Stovey mit einem bitteren Gefühl des Versagens assoziiert, mit dem Gefühl, von einem kühneren Verstand als seinem eigenen ausmanövriert worden zu sein. Im Verlauf der Jahre hatte er stets versucht, sich damit zu trösten, wenn seine Gedanken zu jenem Fall zurückgekehrt waren, wie sie es beharrlich von Zeit zu Zeit taten, ob er wollte oder nicht. Er sagte sich jedes Mal, dass damals noch keine DNS-Tests die Art und Weise revolutioniert hatten, wie die Polizei Verbrecher identifizierte. Noch hatte das Profilieren von Verbrechern die hauptstädtischen Gegenden des Landes verlassen. Angesichts der neuen Waffen, die heutzutage jeder als gegeben ansah, hätte er diesen Mann damals vielleicht überführt. Denn der Kartoffelmann war ein Serien-Vergewaltiger gewesen. Sie hatten damals nicht gewusst, wie viele Opfer er gefunden hatte, weil sie, wie es häufig der Fall ist bei dieser Art von Verbrechen, nur die Aussagen der wenigen Frauen hatten, die zur Polizei gegangen waren. Und vor zweiundzwanzig Jahren waren Frauen noch mehr als zögerlich gewesen, ihre Geschichte zu erzählen. Sie hatten wenig mitfühlende Polizisten gefürchtet und eine Gesellschaft, die dazu neigte, dem Opfer die Schuld zu geben und nicht dem Täter.

»Was hatte sie auch allein in diesem Wald zu suchen?«, war die Reaktion der meisten Leute gewesen, die von einem neuen Opfer des Kartoffelmanns erfuhren. Der Mangel an Kooperation seitens ebenjener Leute, die sich am meisten hätten wünschen müssen, dass der Vergewaltiger geschnappt wurde, der Bewohner des Dorfes selbst, war einer der frustrierendsten Aspekte des ganzen Falles gewesen.

Das erste Opfer, von dem die Polizei erfahren hatte, war ein Mädchen namens Mavis Cotter gewesen, eine auf gut Deutsch gesagt

»ziemlich einfache« Seele. Es war ganz und gar nicht einfach gewesen, sie zu bewegen, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Vokabular war beschränkt, und sie hatte einen tiefen Schock erlitten. Sie war nicht daran gewöhnt, irgendwelche Fragen zu beantworten, und sie konnte weder richtig lesen noch schreiben. Wie ihre Geschichte im Verlauf mehrerer frustrierender Befragungen zu Tage förderte, war sie in den Wald gegangen, weil am Waldrand Heidelbeerbüsche standen. Sie hatte sich um den Wald herum bis zur anderen Seite vorangearbeitet und beschlossen, den Heimweg quer durch den Wald anzutreten, weil es der schnellste Weg war.

Sie hatte ihn nicht gehört. Sie hatte ihn nicht gesehen. Ohne Vorwarnung hatte ihr jemand etwas über den Kopf gestülpt und ihre Arme festgehalten. Das einzige Detail, an das sie sich erinnern konnte, war ein irdener Geruch gewesen. Zuerst hatte die Polizei dem nicht allzu viel Beachtung geschenkt, denn auf dem Waldboden liegend war nur zu erwarten, dass sie Erde roch. Einige hatten sogar angezweifelt, dass es so gewesen war, wie Mavis geschildert hatte, und vermutet, dass sie mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden gewesen und erst später Angst bekommen und die Geschichte von dem Angreifer erfunden hätte.

Doch Markby hatte ihr Glauben geschenkt, weil er nicht davon ausging, dass Mavis über die mentale Agilität verfügte, sich eine Geschichte wie diese auszudenken und daran festzuhalten, nachdem sie sie erst einmal erzählt hatte. Außerdem besaß sie Antworten auf sämtliche skeptischen Fragen (wenn man sie erst so weit gebracht hatte zu antworten).

Warum hatte man keinen Stoff oder Sack oder etwas Ähnliches gefunden an der Stelle, wo sich nach ihren Worten die Tat ereignet hatte? Weil der Mann alles mitgenommen hatte. Und warum hatte sie ihn dann nicht gesehen, als er weggelaufen war? Weil er ihr Gesicht in die Erde und die Blätter gedrückt und ihr gesagt hatte, dass sie sich nicht rühren sollte, sonst würde er sie töten. Seine Stimme war schroff gewesen und hatte merkwürdig geklungen. Sie hatte sie nicht erkannt. Voller Angst war sie eine Weile liegen geblieben, sie wusste nicht wie lange, bevor sie den Mut gefasst hatte, aufzublicken und nach Hause zu rennen, als sie merkte, dass sie alleine war. Außerdem hatte der Fremde ihre Halskette gestohlen. Eine Schnur aus billigen Perlen, doch sie war Mavis’ ganzer Stolz gewesen, und sie hatte genauso sehr um die verlorene Kette wie um ihre verlorene Unschuld geweint – die Implikationen von Letzterem waren ihr gar nicht wirklich bewusst gewesen. Ob sie die Kette nicht vielleicht verloren hatte, weil sie gerissen war, ohne etwas zu bemerken? Nein, beharrte Mavis voller Tränen. Er hatte ihr die Kette gewaltsam vom Hals gezerrt, und es hatte wehgetan, als die Schnur gerissen war. Spuren an ihrem Hals schienen diese Version zu untermauern. Nichtsdestotrotz waren die Bewohner von Lower Stovey offensichtlich der Meinung gewesen, dass man nichts von dem glauben durfte, was Mavis Cotter erzählte, weil sie offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf war, und so war es schon immer gewesen. Allein die Mutter des Mädchens hatte darauf beharrt, dass ihre Tochter vergewaltigt worden war.

Dann war das zweite Opfer aufgetaucht, und ihm hatten sie glauben müssen. Jennifer Fernley war Studentin und eine leidenschaftliche Wandrerin gewesen. Sie war mit einer Freundin zusammen von Bamford aufgebrochen, doch nach relativ kurzer Zeit hatte sich die Freundin den Knöchel verstaucht und war somit ausgefallen. Jennifer war alleine weitergewandert. Sie war in Stovey Woods gewesen, auf dem ausgeschilderten Weg, als sie angegriffen worden war. Sie hatte plötzlich Schritte hinter sich gehört. Was für Schritte? Kein leichter, athletischer Lauf, mehr ein schwerfälliges, angestrengtes Trampeln. Sie hatte sich halb umgewandt, um zu sehen, wer es war, doch sie hatte nur einen dunklen Schatten erkannt, als man ihr einen Sack über den Kopf geworfen und sie geblendet und ihre Arme gefesselt hatte. Es hatte irden gerochen. Nachdem sie vergewaltigt worden war, hatte der Angreifer sie mit dem Kopf in ein Brombeerdickicht gestoßen, wobei sie sich das ganze Gesicht blutig zerkratzt hatte, und ihr befohlen, sich nicht zu rühren, sonst würde sie sterben. Seine Stimme hatte schroff und sonderbar geklungen. Und er hatte ihr etwas gestohlen. Ihre Armbanduhr.

»Der Täter ist ein Sammler«, hatte der alte Superintendent Pelham gesagt, als Markby ihn darüber informiert hatte.

»Er nimmt jedem seiner Opfer etwas weg, das er als Souvenir für sich behält. Wahrscheinlich hat er zu Hause eine Kiste voll mit Anhängern und dergleichen. Er nimmt sie abends raus und starrt sie an, und dabei geht ihm wieder einer ab.«

Es war Markby gewesen, der vorgeschlagen hatte, dass das, was den Opfern über den Kopf gestülpt wurde, möglicherweise ein Kartoffelsack war, was den irdenen Geruch erklärte. Danach hatte die Presse den Vergewaltiger nur noch Kartoffelmann genannt. Irgendein Witzbold hatte sogar eine Karikatur angefertigt und im Einsatzraum an die Wand geheftet. Die Zeichnung zeigte einen kopflosen ovalen Körper mit kurzen Armen und Beinen und Nase, Mund und Augen im Oval des Rumpfes. Darüber stand GESUCHT. Markby hatte die Zeichnung wütend heruntergerissen.

Und so war es schließlich dazu gekommen, dass er Reverend Pattinson einen Besuch abgestattet hatte, dem alten Vikar von Lower Stovey. Man hatte Markby vorgewarnt, dass Pattinson eine Art Gelehrter war, ein wenig altmodisch nach Meinung von Markbys Informant. Die Sorte Mensch, die zufrieden war mit ihren Büchern, des Sonntags zwei Messen las und eigentlich mehr in eine Pfarrei des achtzehnten Jahrhunderts als in ein Vikariat des zwanzigsten gepasst hätte. Nichtsdestotrotz hatte Pattinson, wie Markby bald feststellte, feste Vorstellungen von seiner Gemeinde und lehnte die Vorstellung mit größter Entschiedenheit ab, unter den Männern könnte sich ein Vergewaltiger befinden. Sie waren allesamt Familienväter, respektabel bis ins Herz, beharrte er. Das Dorf war klein. Jeder kannte jeden. Falls einer der Bewohner ein zur Gewalt neigender Psychopath gewesen wäre, hätten die anderen es gewusst.

Vergeblich hatte Markby darauf hinzuweisen versucht, dass immer irgendjemand irgendetwas wusste. Und dass er es nur nicht sagte. Er hatte die Aufmerksamkeit des Vikars auch auf die Beschreibung der Stimme des Angreifers gelenkt: schroff und zugleich eigenartig.

»Wie die Stimme eines Tiers, wenn ein Tier reden könnte«, hatte eine Frau aus dem Dorf gesagt, das dritte Vergewaltigungsopfer. Markbys Meinung nach deutete das darauf hin, dass der Angreifer seine Stimme verstellt hatte, und warum sollte er so etwas tun, außer, er fürchtete, man könnte sie erkennen – entweder bereits zum Zeitpunkt der Tat oder auch erst später?

Der Vikar blieb eisern. Wer auch immer der Täter sein mochte, es war kein Mann aus Lower Stovey. Viele Leute wanderten über die alte Viehtrift. Neben den Wanderern waren es Landstreicher, New-Age-Hippies, Zigeuner und alles mögliche Gesindel. Die Polizei sollte den Täter unter diesen Leuten suchen, nicht in seiner Gemeinde.

Danach hatte es noch zwei weitere Vergewaltigungen gegeben. Eine war von einer weiteren Dorfbewohnerin gemeldet worden, die andere von einer jungen Frau, die mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war und im Wald angehalten hatte, um einem natürlichen Bedürfnis nachzugeben. Im ersten Fall hatte der Kartoffelmann einen einfachen Perlen-Ohrclip an sich genommen, im Fall der Radfahrerin einen kupfernen Armreif.

Und dann war der Kartoffelmann untergetaucht. Es hatte keine weiteren Vergewaltigungen mehr gegeben. Schließlich war er zu etwas Unrealem geworden, einer lokalen Legende, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, und nur seine Opfer wussten, dass es nicht so war. Die Polizei wusste, dass sie ihn verloren hatte.

Vielleicht hatte der alte Reverend Pattinson Recht gehabt, und der Täter war tatsächlich ein Landstreicher gewesen, der sich vorübergehend in Stovey Woods ein Lager aufgeschlagen hatte und dann, als die Ermittlungen der Polizei zu lästig wurden, weitergezogen war.

Wie dem auch sei, der Kartoffelmann war genauso plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war. Markby rührte sich in dem beengten Raum seines Autositzes und kehrte in die Gegenwart zurück. Er konnte den Streifenwagen sehen, der im Gras geparkt stand, doch es war keine Menschenseele in der Nähe. Waren die Beamten in den Wald gegangen, wie die Kinder im Märchen, und hatten sich verlaufen? Kein freundlicher Holzfäller in der Nähe, der sie retten konnte. Wer war er eigentlich genau in diesen Märchen, dieser rätselhafte Holzfäller?, fragte sich Markby, während sein Verstand erneut abschweifte. Was sollte er darstellen? Einen Waldgeist vermutlich. Und der Kartoffelmann? Was war er gewesen?

Er stieg aus dem Wagen und stellte fest, dass seine Schuhe im weichen Grund einsanken. Die Bäume tropften noch vom letzten Regen. Er stapfte vorwärts, und bereits nach wenigen Schritten klebte eine dicke Dreckschicht unter seinen Sohlen.

Als er beim Tor ankam, hörte er Stimmen, und drei Gestalten kamen unter den dunklen Bäumen hervor. Zwei waren in Uniform, die dritte trug ein grelles Gelb und hatte einen großen Buckel.

Sie trafen sich beim Tor. Markby ließ sie durch, dann zeigte er seinen Ausweis.

»Meine Güte, Superintendent!«, rief einer der Constables ehrfürchtig.

»Wurden Sie extra wegen dieser Sache hergeschickt?«

»Nein«, sagte Markby.

»Ich war zufällig in der Ortschaft und habe den Streifenwagen gesehen. Es ist reine Neugier meinerseits. Was haben Sie gefunden?«

Der Constable trug ein schlecht eingewickeltes Paket, das aussah wie eine eingepackte Mahlzeit aus Fisch und Pommes frites, was es definitiv nicht sein konnte. Er blickte darauf.

»Knochen, Sir«, sagte er und machte sich vorsichtig daran, das Paket zu öffnen. Markby erkannte, dass die Umhüllung eine zerknitterte topographische Karte war. Der Mann hielt ihm das aufgeschlagene Papier hin. Ein Gewirr bräunlich verfärbter Knochen lag in der Schale, die die Hände des Beamten bildeten, und Markby sah, dass einer davon ein Kieferknochen war. Markby hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Konnte es sein, dass dies die Knochen des verschwundenen Vergewaltigers waren? Oder eines seiner Opfer? Hatte eines der Opfer den Kopf gehoben und ihn erkannt und dafür mit dem Tod bezahlen müssen?

»Ziemlich alt«, sagte er. Ja. Sie lagen seit zwanzig Jahren oder länger herum, kein Zweifel. Markby sah den jungen Mann in dem gelben wasserdichten Cape an.

»Sie haben diese Knochen gefunden, Sir?«, mutmaßte er.

»Ja«, antwortete der junge Mann.

»Ich bin eine Böschung hinuntergefallen und da lagen sie.«

»Dieser Gentleman ist Dr. Morgan«, erklärte der andere Constable.

»Er ist Arzt, daher wusste er sofort, was für Knochen es waren. Wir haben uns in der Gegend umgesehen, wo er sie gefunden hat. Wir haben keine weiteren Knochen entdecken können, jedenfalls nicht bei unserer oberflächlichen Suche.«

»Ich werde veranlassen, dass jemand herkommt und die Gegend gründlicher in Augenschein nimmt«, sagte Markby mit einem Blick auf den dunklen Wald.

»Allerdings könnte es schwierig werden, das ganze Gebiet abzusuchen.«

»Wirklich schade, dass Sie die Knochen nicht dort gelassen haben, wo Sie sie gefunden haben, Sir«, sagte der andere Constable zu dem jungen Mann mit dem gelben Regencape.

»Sind Sie sicher, dass Sie uns zu der richtigen Stelle geführt haben?«

»Ja, ich bin sicher«, sagte Dr. Morgan gereizt.

»Sie haben selbst die Spuren meines Sturzes gesehen, wo ich die Böschung heruntergerollt bin. Ich habe die Knochen nicht zurückgelassen, weil ich dachte, dass sie vielleicht verschwinden könnten, bevor Sie hier sind. Ich konnte nicht dort bleiben und warten. Ich sagte Ihnen bereits, dass das Mobiltelefon in dieser Senke nicht funktioniert, außerdem hätten Sie mich nie gefunden. Ich musste aus dem Wald heraus und draußen auf Sie warten.«

»Nun, Sir, Sie sollten jedenfalls mit uns kommen und eine Aussage zu Protokoll geben«, sagte der erste Constable mit einem leicht nervösen Seitenblick zu Markby.

»Danke sehr, Doktor, dass Sie Ihren Fund gemeldet haben«, sagte Markby höflich.

»Ich schätze, es hat Ihnen Ihre Wanderung ein wenig verdorben.«

»Kein Problem«, sagte der andere in düsterer Resignation.

»Dieser Wanderurlaub war irgendwie von Anfang an verhext.«

»Stovey Woods ist ein verhexter Wald«, erwiderte Markby, und die drei Männer blickten ihn verblüfft an. Sie trennten sich. Dr. Morgan entledigte sich seines gelben Regencapes, und Markby erkannte, dass der Buckel ein Rucksack war, den er sich von den Schultern nahm, bevor er hinten in den Streifenwagen stieg. Alan kehrte zu seinem eigenen Fahrzeug zurück, öffnete die Tür und beugte sich hinein, um eine Zeitung hervorzuholen. Er breitete eine Lage Blätter im Fußraum aus. Er war kein pingeliger Mensch, doch er vermied überflüssige Arbeit, wenn es ging. Er entfernte einen Teil des Drecks von den Schuhen, indem er mit den Sohlen über ein Grasbüschel streifte, dann seufzte er und kletterte hinter das Lenkrad. Der kleine Konvoi setzte sich in Bewegung und rumpelte über die von Schlaglöchern übersäte Straße zurück zum Dorf. Als sie die Kirche erreichten, tippte Markby auf die Hupe, um den Männern im Wagen vor ihm zu bedeuten, dass er sie an dieser Stelle verließ. Neben einem überdachten Friedhofstor hielt er an und blickte dem Streifenwagen hinterher, bis er außer Sicht verschwunden war.

KAPITEL 3

RUTH ASTON hockte unglücklich auf einer klapprigen Trittleiter und staubte Sir Rufus Fitzroys Denkmal mit einem hellgrünen gefiederten Wedel ab. Das Fitzroy-Denkmal, wie es in der Broschüre über die Geschichte der Gemeindekirche genannt wurde, vermittelte den Eindruck, in seinen Tagen ein kostspieliges Stück Bildhauerei gewesen zu sein. Die Broschüre erzählte jedoch die Geschichte, dass der Künstler finanziell in der Klemme gesteckt und mehr oder weniger für ein Butterbrot gearbeitet hatte. Er war Italiener gewesen und in der Hoffnung auf Aufträge wohlhabender Mäzene nach England gekommen. Doch die einzigen Aufträge waren Nymphen und Satyrn für Landschaftsgärten gewesen, als er, nahezu beiläufig, gefragt wurde, ob er nicht einen geeigneten Gedenkstein für einen Gentleman anfertigen könne. Nichtsdestotrotz war das Resultat heute eine der Touristenattraktionen der Gemeindekirche von Lower Stovey, sofern sie überhaupt welche besaß. Architektonisch unterschied sie sich in nichts von einer Vielzahl anderer gleich großer Kirchen des Spätmittelalters. Sie hatte ihre originalen Bleiglasfenster verloren, als Cromwells Soldaten sie in puritanischer Ereiferung herausgeschlagen hatten. Die Soldaten hatten die Statuen der Heiligen aus den Nischen in der Fassade gerissen und zerschlagen. Nur eine einzige war übrig geblieben, weil sie sie nicht erreichen konnten, die Statue eines unbekannten Bischofs hoch oben auf der Westseite, sicher vor allem außer den Dohlen. Die Viktorianer mit ihrer eigenen Abart von frommem Rowdytum hatten die Kanzel umgebaut, den Taufstein aus dem vierzehnten Jahrhundert entfernt und durch eine Version im gotischen Stil ersetzt, angefertigt von einem Anhänger Pugins. Sie hatten auch die geschlossenen Chorstühle aus dem achtzehnten Jahrhundert herausgerissen und durch Eichenbänke ersetzt, die heutzutage an einem guten Sonntag – bestenfalls – von einer Versammlung aus fünfzehn Seelen benutzt wurden. Die Dorfbewohner, sowohl die einheimischen als auch die hinzugezogenen, waren nicht religiös, und die Wochenendbesucher und Wochenendhausbesitzer verbrachten ihre freien Sonntagmorgen damit, die ländliche Atmosphäre im Dorfpub einzusaugen, und die Nachmittage, um sich auf ihre Rückfahrt nach London vorzubereiten. Angesichts dieser Umstände war ein eigener Priester für Lower Stovey nicht länger gerechtfertigt, nicht einmal ein wöchentlicher Gottesdienst. Wer auch immer gerade von einer der anderen Gemeinden in der Gegend entbehrlich war, kam in monatlichem Wechsel hierher, um die Messe zu lesen, auch wenn die Kirchengemeinde rein technisch der Obhut von Pater Holland in Bamford anvertraut war. Doch die Kirche verfügte über ein paar interessante Details, und Ruth, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sie von Zeit zu Zeit abzustauben, kannte sie in- und auswendig. Das Fitzroy-Denkmal zeigte das perückenbesetzte Marmorprofil des Verstorbenen, gehalten von zwei Cherubim. Der Bildhauer hatte sich für eine Ansicht von der Seite entschieden, offensichtlich, um das meiste aus den charakteristischen Gesichtszügen des Toten zu holen. Er hatte in seiner Zeit wahrscheinlich als attraktiver Mann gegolten mit seinem schmalen Gesicht, der Adlernase und den tief liegenden Augen. Unter der Skulptur war eine Inschrift, die seine Tugenden listete, von denen es zahlreiche gegeben hatte, seine Errungenschaften, die bemerkenswert gewesen waren, seine Studien, die umfassend gewesen waren, und seine pflichterfüllte Sorge für den Neffen, der sein Vermögen geerbt hatte. Zur Linken der Inschrift war die Gestalt des teilweise verschleierten Sensenmannes abgebildet. Er lehnte auf seiner Sense, das linke Skelettbein gestreckt, das rechte nonchalant vorgestellt und auf den knöchernen Zehenspitzen ruhend. Er hatte die Ausstrahlung von jemandem, der zufrieden mit seiner Arbeit ist. Zur Rechten der Inschrift und völlig in Schleier gehüllt stand eine trauernde weibliche Gestalt in der klassischen Kleidung und zeigte mit einem Finger auf das Porträt, damit kein Betrachter die Botschaft übersehen konnte, trotz allem anderen. Ruth mochte das Fitzroy-Denkmal im Grunde genommen nicht. Es war in ihren Augen selbstgefällig und makaber zugleich. Sie bezweifelte, dass Sir Rufus der Ausbund an Tugend gewesen war, als der er dargestellt wurde, und sie hatte ihre Zweifel, was die Motive des Neffen anging, dieses Ding in Auftrag zu geben. Ruth selbst war eine kleinwüchsige Frau mit einer vorwitzigen Nase und weit auseinander stehenden grünen Augen. Ihre blonden Haare waren von grauen Strähnen durchsetzt, doch weil sie immer schon aschblond gewesen waren, sahen sie heute nur wenig anders aus als zu der Zeit, als sie jung gewesen war. Ruth war ein hübsches Kind gewesen, eine hübsche junge Frau und heute, mit siebenundfünfzig, war sie immer noch attraktiv. Im Augenblick trug sie Baumwolljeans, weiche flache Schuhe und ein verwaschenes Männer-Rugbytrikot, das ihrem verstorbenen Ehemann gehört hatte. Weil das Trikot viel zu groß war, hatte sie die Manschetten hochgekrempelt, und der Rest flatterte um ihre hagere Gestalt wie ein Rock, was ihr, wie sie es nannte, jede Menge Bewegungsfreiheit verlieh. Es war ihre Kirchenputzkleidung. Sie war allein in der Kirche, und es gefiel ihr so. Doch nun ertönte hinter ihrem Rücken das leise Quietschen der Nordtür, gefolgt vom lauten Vogelgezwitscher aus den Kirchhofbäumen und dem Tap-tap eines Gehstocks. Sie wusste auch ohne hinzusehen, wer dort gekommen war. Er hatte ihren Wagen draußen parken sehen, von seinem Cottage aus, nur ein klein wenig weiter die Straße hinunter auf der gegenüberliegenden Seite. Er versäumte nie eine Gelegenheit, auf ein Schwätzchen vorbeizukommen, wenn sie da war. Die Unterhaltung verlief stets mehr oder weniger gleich. Sie hatte keinen Grund zu der Annahme, dass es heute anders sein würde. Ruth unterdrückte einen Seufzer und wartete auf die unausweichliche Eröffnungsfrage.

»Alles in Ordnung da oben auf der Leiter, Mrs. Aston?«

»Ja, danke sehr, Mr. Twelvetrees«, antwortete sie mehr oder weniger automatisch. Ihre Aufmerksamkeit war plötzlich geweckt von einem kleinen grauen Bereich an der Gipswand hoch über dem Kopf von Rufus Fitzroy. Er konnte unmöglich von dem Schatten hervorgerufen sein, den irgendein Holzbalken oder ein behauener Kragstein warf. Es war doch wohl keine Feuchtigkeit? Feuchtigkeit war ein Problem, das ihnen bisher erspart geblieben war. Doch falls es Feuchtigkeit war, würde sie es umgehend Pater Holland in Bamford melden müssen.

»Diese Leiter sieht nicht besonders stabil aus in meinen Augen«, sagte der Neuankömmling und tippte mit dem Stock gegen das Holz an der Seite.

»Sie sollten mit der Kirche reden, damit sie eine neue kauft.« Von wegen, neue Leiter, dachte Ruth. Sie durfte diesen grauen Fleck nicht ignorieren. Irgendjemand würde ihn inspizieren müssen, doch sie konnte mit ihrer Trittleiter nicht so weit nach oben, noch verspürte sie Lust, sich überhaupt so weit von festem Boden zu entfernen. Sie würde Kevin Jones bitten, eine lange Leiter von der Farm mitzubringen, an der Wand hochzuklettern und einen Blick auf den Fleck zu werfen. Kevin war ausgesprochen hilfreich, was diese Art von Dingen anging.

»Es hat aufgehört zu regnen. War ein ziemlicher Guss, nicht wahr?« Ruths Besucher beharrte auf seinem Teil der Konversation, trotz des Mangels an Antworten.

»Ich war hier drin«, murmelte Ruth. Er wechselte die Taktik.

»Das ist wirklich ein schönes Stück Marmor.« Ruth ergab sich in ihr Schicksal. Sie unterbrach ihre Arbeit und kletterte halb von der Trittleiter nach unten, wo sie den Kopf drehen konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Dort stand er, William Twelvetrees, Old Billy Twelvetrees, so genannt, weil es einen Young Billy gab, seinen Sohn, auch wenn Young Billy nicht länger in Lower Stovey lebte. Old Billy war so breit, wie er groß war, und so stabil und rüstig wie die alte Kirche. Er hatte einen dichten Schopf weißer Haare trotz des fortgeschrittenen Alters. Sein Gesicht war rot von einem Leben, das er Arbeitstag für Arbeitstag unter freiem Himmel und Abend für Abend in der behaglichen Geborgenheit des Fitzroy Arms verbracht hatte. Old Billys einzige Altersgebrechen waren eine schwache Hüfte, daher der Stock, und eine gelegentliche Angina, die ihm eine Ausrede lieferte, nichts Anstrengendes mehr anzufassen, wie minimal es auch sein mochte. Er hob den Stock und deutete damit auf das Denkmal.

»Ich mag es nicht besonders«, sagte Ruth.

»Es ist zu ausgefallen für meinen Geschmack und zu morbide.«

»Damals wussten sie jedenfalls noch, wie man einen richtigen Gedenkstein macht«, stellte Billy tadelnd fest.

»Wie geht es Ihnen heute, Mr. Twelvetrees?«, fragte Ruth, indem sie sich weigerte, an einer Diskussion über georgianische Begräbniskunst teilzunehmen.

»Ich hab immer noch das Stechen.« Billy tippte sich gegen die Brust. Detailliertere Informationen über seinen Gesundheitszustand wurden ihr erspart, denn wie sich herausstellte, ging Billy etwas anderes durch den Kopf.

»Haben Sie den Streifenwagen von der Polizei gesehen, Mrs. Aston?« Ruth starrte ihn an.

»Was für einen Streifenwagen?« Obwohl er erfreut war, dass sie die Neuigkeiten noch nicht wusste und er der Erste sein würde, der sie ihr überbrachte, klang eine gewisse Gereiztheit aus seiner Stimme, als hätte das unerwartete Ereignis mit seinen unbekannten Ursachen seine tägliche Routine durcheinander geworfen.

»Er kam aus dem Nichts und ist vorbeigebraust. Das ist inzwischen fast eine Stunde her, und er ist noch nicht wieder zurück. Wir haben eine Geschwindigkeitsbegrenzung in unserem Dorf, Polizei oder nicht! Was will die Polizei überhaupt hier? Ich hab zur Kirche geschaut und gesehen, dass Sie Ihr kleines Haus noch nicht verlassen haben. Ich hab außerdem gesehen, dass Ihr Wagen nicht vor der Kirche geparkt war, deswegen dachte ich mir, dass Sie es vielleicht gar nicht mitbekommen haben.« Er legte einen knorrigen Finger neben seine Nase. Ruth, eine pensionierte Englischlehrerin, dachte grob, dass man selbstverständlich nichts sehen konnte, was überhaupt nicht da war. Old Billy brummte immer noch vor sich hin.

»Man sollte ihn melden. Er ist durch das Dorf gerast wie eine Fledermaus aus der Hölle. Wieso ist er noch nicht wieder zurück?« Ruht blickte nervös zur Kanzel hinauf.

»Vielleicht sollten Sie diesen Ausdruck nicht gerade hier drin benutzen, Mr. Twelvetrees«, murmelte sie. Er wischte ihren Einwand beiseite.

»Sie sind rauf in den Wald gefahren, schätze ich. Ich hab keine Ahnung, was sie da oben wollen.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Ruth scharf. Sie versuchte das unangenehme Gefühl zu verdrängen, dass irgendetwas Schlimmes passiert war.

»Es gibt nur diese eine Straße, oder?«, schmollte er.

»Sie führt bis zum Wald und hört kurz davor auf. Ich hab an der Haustür gewartet, um zu sehen, ob sie zurückkommen und genauso schnell durch das Dorf rasen, und falls ja, hätte ich sie angezeigt. Was glauben Sie, Mrs. Aston, was hält diese Polizisten auf?« Er spähte hinauf zu ihr. Sein rotes rundes Gesicht mit den weißen Stoppeln und der Stummelnase hatte etwas Groteskes, als wäre einer der Kragsteinköpfe über ihr von den Händen eines mittelalterlichen Steinmetzen zum Leben erweckt worden. Ruth streckte die Hand aus und packte den Kopf eines Cherubs, um sich zu halten.

»Hören Sie, sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist, Mrs. Aston? Sie sind plötzlich so blass!« Er trat näher und fixierte sie aus verschlagenen kleinen Augen unter den zottigen weißen Augenbrauen.

»Mir fehlt nichts, danke sehr!« Ihre Stimme klang schrill in ihren eigenen Ohren.

»Keine Sorge, es ist bestimmt nichts Ernstes.« Sie suchte nach einer Erklärung.

»Vielleicht hat jemand im Wald ein Feuer gemacht. Menschen tun manchmal so dumme Dinge.«

»Dann wäre doch wohl die Feuerwehr gekommen, oder nicht? Nicht die Polizei.«

»Wenn Sie wieder nach draußen gehen«, sagte Ruth mit ruhiger Entschlossenheit,

»dann werden Sie bestimmt sehen, wie die Polizei irgendwann zurückkommt. Sie muss hier entlangkommen. Vielleicht hält sie ja bei Ihnen an, um Sie etwas zu fragen oder Ihnen etwas zu erzählen.« Für einen Moment glaubte sie, die Finte hätte gewirkt. Er wandte sich ab, als wollte er gehen, und sie dachte schon, sie wäre ihn endlich wieder los. Doch dann knarrte die Nordtür erneut, und wässriges Sonnenlicht fiel auf die Steinfliesen des Bodens. Eine dunkle Silhouette, eingerahmt vom gotischen Bogen, setzte sich in Bewegung und stieg die beiden ausgetretenen Stufen in die Kirche hinunter. Hinter dem Neuankömmling schloss sich die Tür. Ruths Herz machte einen kleinen Satz. Sie erwartete, dass der Neuankömmling einer der Polizisten war, die Billy gesehen hatte – doch dann konnte sie sehen, dass es eine Frau war und dass sie Zivilkleidung trug. Eine Fremde, was für sich genommen nicht ungewöhnlich war. Es kamen häufiger Besucher vorbei, um sich die Kirche anzusehen. Die Frau war hoch gewachsen, Mitte bis Ende dreißig und besaß dickes, zerzaustes braunes Haar. Keine wirklich hübsche Frau, doch höchst eindrucksvoll. Ihre Gesichtszüge waren regelmäßig, die Augenbrauen geschwungen über schönen, vermutlich haselnussbraunen Augen. Sie trug Jeans und eine hellgelbe Baumwollbluse.

»Störe ich Sie?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete Ruth dankbar und kletterte den Rest der klapprigen Trittleiter hinunter.

»Sind Sie hergekommen, um sich die Denkmäler anzusehen?« Die Besucherin wirkte überrascht.

»Ich wusste nicht, dass es welche gibt. Sind es berühmte Denkmäler?«

»Das würde ich nicht gerade sagen, aber sie werden schon hin und wieder erwähnt. Ich bin Ruth Aston. Ich bin die Kirchenvorsteherin hier.« Old Billy Twelvetrees räusperte sich laut und klopfte mit seinem Stock auf den Steinboden.

»Und das«, fügte Ruth resigniert hinzu,

»das ist Mr. Twelvetrees, der schon länger in diesem Ort lebt als jeder andere.«

»Das ist richtig, Ma’am, das tue ich«, sagte Billy.

»Mein Name ist Mitchell«, sagte die junge Frau.

»Meredith Mitchell. Mein Freund und ich sind auf der Suche nach einem geeigneten Haus. Wir haben uns eben das alte Vikariat angesehen.«

»Mrs. Aston kann Ihnen alles über das Vikariat erzählen«, krähte Billy. Ruth funkelte ihn an.

»Warum gehen Sie nicht nach draußen und passen auf, wann der Wagen zurückkommt?«, drängte sie ihn.

»Ich zeige Mrs. Mitchell in der Zwischenzeit unsere Kirche.« Billy war hin- und hergerissen zwischen zwei Themen von absorbierendem Interesse, doch der Polizeiwagen gewann schließlich vor der Touristin.

»In Ordnung«, murmelte er und stapfte nach draußen. Ruth stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Er wartet am Fenster, bis er mich sieht, und dann kommt er in die Kirche, um ein Schwätzchen mit mir zu halten. So ist es jedes Mal. Ich nehme an, er ist einsam, aber nachdem man ein paar Mal die gleiche Unterhaltung mit ihm geführt hat, wird es ein wenig viel.« Sie deutete auf das Innere der Kirche ringsum.

»Der Grund, aus dem er gesagt hat, ich wüsste alles über das Vikariat, ist der, dass ich früher dort gewohnt habe. Mein Vater war der letzte Inhaber der Pfarrstelle. Wir haben heutzutage keinen eigenen Vikar mehr, dazu ist die Gemeinde zu klein. Doch die älteren Einheimischen, wie Old Billy Twelvetrees, denken immer noch von mir als der ›Tochter des Vikars‹. Hester, die Freundin, mit der ich zusammenwohne, und ich, wir sind die Kirchenvorsteherinnen und halten ein Auge auf die Dinge. Ich glaube, mein Vater hätte das von mir erwartet.« Sie grinste schief.

»Wir haben noch keine Entscheidung bezüglich des Hauses gefällt«, sagte Meredith rasch.

»Wir sind eben erst hergekommen, um es anzusehen.«

»Es ist ein wenig heruntergekommen, nicht wahr?«, fragte Ruth mitfühlend.

»Früher war es sehr hübsch. Der Garten jedenfalls. Muriel Scott ist keine Gärtnerin, und dieser elende Hund von ihr hat überall Löcher gegraben. Haben Sie Roger gesehen?«

»Nein. Er war in der Toilette eingesperrt.«

»Gehen Sie ihm aus dem Weg, wenn Sie können. Er sabbert. Tut mir Leid, wenn ich Ihnen neugierig erscheine, aber haben Sie Familie? Ich meine, das Vikariat ist ein ziemlich großes Haus.«

»Wir haben keine Kinder, nein. Ich stimme Ihnen zu, es ist wahrscheinlich viel zu groß. Mein Partner und ich sind heute hierher gekommen, um es zu besichtigen, aber er ist jetzt nach oben zum Wald gefahren.« Ruth starrte sie in plötzlichem Misstrauen an.

»Warum?«, fragte sie angespannt. Meredith wirkte ein wenig verlegen.

»Wir haben vorhin einen Streifenwagen dort hinauffahren sehen. Alan ist selbst Polizist. Er musste hinterher und herausfinden, worum es geht.«

»Ach ja, der Streifenwagen«, sagte Ruth halbherzig.

»Old Billy Twelvetrees hat ihn ebenfalls gesehen. Jeder hat ihn gesehen, wie es scheint.« Sie schüttelte sich.

»Nun ja. Das hier ist das Fitzroy-Denkmal. Er ist ein Vorfahre mütterlicherseits von mir. Die Fitzroys haben noch eine Reihe weiterer Denkmäler. Es ist jedes Mal, als würde ich ältere Verwandte besuchen, wenn ich herkomme. Ich habe das Gefühl, als würden sie mich nicht wirklich gutheißen. Obwohl mir der Grund dafür nicht ganz klar ist – sie waren selbst eine ziemlich despektierliche Bande. Diese Kirche wurde mit Blutgeld gebaut. Das ist der Grund dafür, dass sie so groß ist.« Die Augenbrauen der Besucherin gingen in die Höhe.

»Was für Blutgeld?«

»Oh. Na ja, ich nenne es so«, sagte Ruth.

»Hubert Fitzroy hat das Geld zum Wiederaufbau der ursprünglichen, kleinen Kirche in diesem großen Maßstab gegeben, nachdem seine Frau Agnes auf rätselhafte Weise den Tod fand. Sie stürzte aus dem Fenster, doch es gab Gerüchte, dass sie schon tot war, bevor sie über das Sims gekippt wurde. Die Behörden schienen ebenfalls von den Gerüchten erfahren zu haben, doch Hubert war ein loyaler Beamter des Königs, und das Leben einer Frau war damals nicht viel wert. Der Bischof veranstaltete einen großen Wirbel, weil Agnes eine Verwandte von ihm gewesen war, doch er wurde still, als Hubert ihm die neue Kirche versprach. Hubert und Agnes haben dort drüben eine Gruft, falls es Sie interessiert, mit ihren Bildnissen darüber. Huberts Bildnis ist unkenntlich gemacht worden. Das von Agnes nicht. Ich habe mich oft gefragt, warum das so ist.« Ruth stockte. Sie konnte nicht anders – der Gedanke an den Streifenwagen oben beim Wald verdrängte alles andere aus ihren Gedanken, und das Schnattern über den alten Hubert half nicht unbedingt. Sie versuchte es mit einem anderen Trick.

»Es gibt übrigens kein Upper Stovey, falls Ihnen das nicht bereits aufgefallen ist. Wir haben unseren Ort ›Lower Stovey‹ genannt, weil er unterhalb von Stovey Woods liegt. Wenigstens glauben die Leute das. Als ich noch klein war, wuchsen hauptsächlich einheimische Bäume dort. Dann kam die Forstbehörde irgendwann in den Sechzigern und hat überall Kiefern gepflanzt.«

»Haben Sie als Kind oben im Wald gespielt? Die Verlockung muss doch sehr groß gewesen sein«, fragte Meredith. Ruth schüttelte den Kopf.

»Ich mochte den Wald nie. Als Schulmädchen hatte ich schon Angst davor, und ich bin nie hineingegangen, wenn nicht meine Mutter dabei war und wir den Hund spazieren geführt haben oder wenn wir nach Grünzeug gesucht haben, um die Kirche zu schmücken. Andere Kinder aus dem Dorf gingen in den Wald zum Spielen, aber ich hatte Angst, dem Grünen Mann zu begegnen.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Meredith.

»Er war ein Waldgeist, nicht wahr?« Sie blickte Ruth neugierig an.

»Gibt es in dieser Gegend etwa eine Legende über den Grünen Mann?«, fragte sie.

»Kommen Sie mit nach draußen«, sagte Ruth unvermittelt.

»Ich möchte Ihnen etwas zeigen, draußen an der Mauer unter den Gesimsen.« Vor der Kirche war die Sonne wieder hinter den Wolken hervorgetreten und tat ihr Bestes, um den Regen zu trocknen. Ihre Arbeit wurde auf dem Kirchhof erschwert durch hohes Gras und wilde Büsche und den allgemein verwahrlosten Zustand. Hier und da zwischen den Gräsern und den unregelmäßigen Hügeln alter Gräber standen große Judassilberlinge mit ihren spatenförmigen Blättern und den purpurnen Blütentrauben. Meredith bemerkte, dass sie die gleichen Pflanzen massenhaft im Garten des Vikariats gesehen hatte, und Ruth stimmte ihr zu, dass sie sich von dort aus verbreitet und auf dem Kirchhof Fuß gefasst haben mussten. Gräber und Monumente ragten aus dem Dschungel aus Unkraut, Blumen und Büschen, schief und überwuchert von Flechten. Ein Engel auf einem Sockel in der Nähe sah aus, als würde er jeden Augenblick der Länge nach umkippen, heruntergezogen von seinen nutzlosen steinernen Flügeln. Eine einzelne Elster, die auf dem Steinkopf gehockt hatte, flog beim Näherkommen der beiden Frauen laut schimpfend auf.

»Eine für Sorgen«, sagte Ruth Aston laut und blickte sich nahezu verzweifelt nach einer zweiten Elster um. Zwei für Freude? Nein. Nur die eine. Sie verdrängte den Aberglauben aus ihren Gedanken und begann sich für den Zustand von allem zu entschuldigen, während die beiden Frauen sich einen Weg um das Gebäude herum bahnten.

»Früher haben wir Old Billy bezahlt, um den Kirchhof in Ordnung zu halten, aber er konnte es irgendwann nicht mehr wegen seiner Hüfte und seiner Angina. Es sieht schrecklich aus, ich weiß. Es gibt keine Begräbnisse mehr hier, obwohl ich denke, wenn einer der wirklich alten Dorfbewohner wie beispielsweise Billy Twelvetrees den Wunsch äußern würde, hier begraben zu werden, würden wir versuchen, einen Platz zu finden. Pater Holland sagt immer, dass wir den Wunsch eines Menschen, unter seinen Freunden und Verwandten begraben zu werden, respektieren sollen, wenn es irgendwie geht.« Sie blieben stehen, und Ruth deutete nach oben.

»Sehen Sie den Wasserspeier dort oben?« Meredith blickte in die angegebene Richtung. Irgendein mystisches Wesen am Sims, das aussah wie ein Drache, war zu einem Wasserspeier geformt.

»Sie meinen den Drachen?«, fragte sie.

»Ja. Und jetzt sehen Sie nach links, an der Dachrinne entlang und ein klein wenig nach unten.« Meredith tat wie geheißen.

»Oh«, sagte sie dann.

»Ich sehe eine Bildhauerei, ein Gesicht an der Wand, direkt unter dem Sims.«

»Richtig«, sagte Ruth.

»Das ist er.« Ein Sonnenstrahl fiel auf das Gesicht, während sie sprach, und versetzte die Frauen in die Lage, das kühne Gesicht deutlicher zu erkennen, das aus einem Dickicht von Blättern hervorspähte.

»Einige Menschen denken, er wäre ein keltischer Gott«, erklärte Ruth.

»Cernunnos. Mein Vater hat geglaubt, dass er einer noch älteren Tradition entstammt, noch älter als die Kelten. Vielleicht Jungsteinzeit. Es gibt eine andere Theorie, die ihn mit den Riten des Dionysos verbindet, eine Art westeuropäischer Version dieses Kults. Mein Vater hatte seine Zweifel diesbezüglich. Wie dem auch sei, die Wälder hier sind sehr alt. Mein Vater fand durch seine Forschungen heraus, dass sie schon immer ein heiliger Ort waren. Es gibt ein Erdwerk darin, größtenteils überwuchert, von dem mein Vater glaubt, dass es ein Opferplatz gewesen sein könnte. Wir haben jede Menge Schlusssteine und Säulenkapitelle in anderen Kirchen der Gegend, die belaubte Köpfe zeigen, wie mein Vater sie nannte, um sie vom echten Grünen Mann zu unterscheiden. Sie wurden zu einer recht verbreiteten Zierde, in vielen Fällen mehr ein modischer Schnickschnack als alles andere. Doch der ursprüngliche Grüne Mann, was auch immer er war, lebte im Unterbewusstsein der Leute weiter. Die Männer, die diese Kirche gebaut haben, glaubten fest an ihn, all die Maurer und Handwerker. Sie wussten, dass diese Kirche, die den neuen Glauben repräsentierte, eine Herausforderung war für den alten Glauben. Also setzten sie den Grünen Mann hier oben in die Wand, von wo aus er nach Stovey Woods hinausblickt, auf sein Reich. Im Innern der Kirche ist er im Grunde genommen ein Eindringling, der dort nichts zu suchen hat. Aber sobald wir in die Wälder gehen, sind wir die Eindringlinge.« Ruth bemerkte, dass die Besucherin sie ein wenig zweifelnd anstarrte, und sie stieß ein etwas gezwungenes Lachen aus.

»Tut mir Leid, wenn es Sie langweilt, aber es war ein spezielles Hobby meines Vaters, also wurde ich mit diesem Hintergrund aufgezogen. Ich glaube nicht daran, natürlich nicht. Es ist nur, dass die Stovey Woods einen gewissen Ruf haben. Im Verlauf der Jahre sind dort viele Dinge passiert, und die meisten waren alles andere als schön. Das ist der Grund, aus dem ich ein ungutes Gefühl bekam, als Old Billy mir erzählt hat, dass ein Streifenwagen zu den Stovey Woods unterwegs ist. Ich hoffe, es bedeutet nicht noch mehr Unheil.« Jetzt hatte sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Besucherin, die aussah, als würde sie fragen, welche Art von Unheil. Ruth biss sich hastig auf die Zunge und wünschte, sie wäre nicht so geschwätzig gewesen. Was hatte sie dazu veranlasst, einfach draufloszuplappern und einer Fremden von den Wäldern zu erzählen? Der Grund, schätzte sie, war der, dass die Wälder immer irgendwo in ihren Gedanken lauerten. Sie waren Teil dieses Wirrwarrs aus unterdrückten Erinnerungen, die wie ein Fischmonster in einem See lauerten und zur Oberfläche kamen, wenn man am wenigsten damit rechnete. Doch sie hatte Glück. Ihre Begleiterin wurde abgelenkt, und anstatt die gefürchtete Frage zu stellen, deutete sie die nach Stovey Woods führende Straße hinauf.

»Der Streifenwagen kommt zurück«, sagte Meredith.

»Und der Wagen dahinter gehört meinem Freund. Das ist Alan.« Die beiden Frauen setzten sich in Richtung des Friedhofstors in Bewegung. Ruth bemühte sich, natürlich zu wirken, sich nicht zu beeilen und nicht zu erscheinen, als wäre sie neugierig auf irgendwelche Neuigkeiten. Ganz bestimmt keine schlechten Neuigkeiten, dachte sie verzweifelt. Das könnte ich nicht ertragen. Was soll ich tun, falls … Der Streifenwagen ratterte vorüber ohne anzuhalten. Hinten saß ein jüngerer Mann um die dreißig. Was hat er angestellt?, fragte sich Ruth. Der nachfolgende Wagen jedoch wurde langsamer und hielt beim Tor. Ein großer, dünner, blonder Mann in einem Pullover und Khakihosen stieg aus. Er kam ihnen lächelnd entgegen.

»Ruth, das hier ist Alan Markby«, sagte Meredith.

»Alan, das ist Mrs. Aston. Sie ist die Kirchenvorsteherin hier, und ihr Vater war der letzte Vikar der Gemeinde. Mrs. Aston ist im Vikariat aufgewachsen.« Ruth errötete unwillkürlich.

»Ich habe Meredith unsere Kirche gezeigt«, sagte sie.

»Ich fürchte, sie wird heutzutage nicht mehr sonderlich häufig genutzt.« Sie atmete tief durch. Er sah freundlich aus. Ein netter Mann. Er würde es ihr erzählen, oder nicht?

»Was ist denn passiert?«, fragte sie.

»Oben im Wald, meine ich?« Der Mann zuckte die Schultern, und eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn. Er hatte, wie Ruth empfand, eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem alten Sir Rufus, mit seinem schmalen Gesicht und der aristokratischen Haltung.

»Nichts Aufregendes«, sagte er. Er sprach mit jener freundlichen Entschiedenheit, die Ruth mit Menschen assoziierte, welche ihre Autorität mit natürlicher Gelassenheit tragen, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Sie stellte fest, dass sie zugleich erleichtert und enttäuscht war. So waren Polizisten eben. Wie Ärzte und Priester. Sie waren die Wächter der Geheimnisse anderer. Sie gaben niemals Informationen preis. Sie hätte es wissen müssen. Sie fühlte sich verlegen, weil sie wusste, dass sie nicht hätte fragen sollen. Doch Meredith neben ihr hatte keine derartigen Hemmungen und sprang in die Bresche.

»Ach, jetzt komm schon, Alan! Wir sterben vor Neugier. Was ist passiert?«

»Du meinst, du stirbst vor Neugier«, entgegnete er gut gelaunt.

»Na gut, aber es bleibt unter uns. Ein Wanderer, der vor dem Regen Zuflucht gesucht hat, hat ein paar alte Knochen gefunden.« Ruth hörte, wie ein Ächzen über ihre Lippen kam.

»Knochen?«, stammelte sie.

»Was für Knochen?«

»Kein Skelett, nichts dergleichen. Nur ein paar Knochen, und wir müssen warten und sehen, was die Experten dazu sagen.«

»Wie schrecklich. Sie meinen doch keine Tierknochen, oder?« Die Dinge veränderten sich von schlimm zu schlimmer. Ruth war sicher, dass ihr das Entsetzen ins Gesicht gemalt stand, in einem Ausmaß, das den Polizisten ganz bestimmt aufmerksam werden ließ. Es ging weit über die normale Reaktion auf eine solche Neuigkeit hinaus.

»Unwahrscheinlich«, sagte er.

»Menschliche Knochen, ja. Aber wie ich bereits sagte, ziemlich alt und nicht viele. Ich bezweifle, dass sie einfach zu identifizieren sein werden. Aber natürlich werden wir es versuchen.« Endlich schien er ihr blasses Gesicht und den offen stehenden Mund zu bemerken.

»Könnte sein, dass es ein archäologischer Fund ist«, sagte er.

»Von Zeit zu Zeit tauchen solche Dinge auf, ausgegraben von Tieren.« Ruth riss sich zusammen.

»Oh, nun ja, äh, wahrscheinlich haben Sie Recht. Wie … wie interessant.«

»Ruth hat mir von den Wäldern erzählt«, sagte Meredith.

»Und wie uralt sie sind.« Ruth überlegte, ob der Mann namens Alan die Worte seiner Freundin überhaupt gehört hatte. Seine Gedanken schienen abwesend zu sein, als dächte er über irgendetwas nach. Er sah die beiden Frauen einen Moment lang mit leeren Blicken an, dann blinzelte er und sagte schnell:

»Wenn du hier fertig bist, Meredith, dann sollten wir jetzt vielleicht zurückfahren.«

»Ja, sicher«, antwortete Meredith. Sie klang ein wenig überrascht.

»Danke sehr für die Führung, Ruth. Es war wirklich faszinierend.«

»Keine Ursache.« Die beiden wandten sich ab und gingen davon, und einem Impuls folgend, rief Ruth ihnen hinterher:

»Wenn Sie mal wieder in Lower Stovey sind, um sich das Vikariat noch einmal anzusehen oder so, dann kommen Sie doch auf eine Tasse Tee bei uns vorbei. Mein Cottage steht am Ende der Church Lane. Es heißt The Old Forge, weil es früher einmal eine Schmiede war. Ich wohne mit einer Freundin dort. Bitte kommen Sie vorbei. Hester und ich haben nicht viele Besucher.« Sie versprachen zu kommen. Ruth blickte ihnen hinterher, während sie in den Wagen stiegen und davonfuhren. Es war ein Albtraum. Wie hatte das passieren können, nach so vielen Jahren? Und warum hatte sie die beiden eingeladen, sie zu besuchen, wenn sie wieder in der Gegend waren? Um zu erfahren, was die Polizei herausgefunden hatte? Der Mann würde ihr nichts verraten, nicht dieser Mann, der selbst Polizeibeamter war. Aber vielleicht würde die Frau reden. Und dann war da noch Hester. Was würde Hester sagen, wenn sie die schlechten Neuigkeiten erfuhr? Der Mann hatte sie gebeten, es für sich zu behalten, aber sie musste es Hester einfach erzählen. Zu ihrer Rechten war eine Bewegung in einer buschigen jungen Eibe. Die Nadeln raschelten und teilten sich. Ein faltiges Gesicht mit kleinen bösartigen Augen und einer Stupsnase tauchte auf. Ruth stieß einen leisen Schreckensruf aus. Das Gesicht verschwand. Der Busch erzitterte erneut, und Old Billy Twelvetrees tauchte aus seinem Versteck auf. Sie hatte ihn völlig vergessen, doch sie hätte wissen müssen, dass er sich irgendwo in der Nähe herumtrieb.

»Ich hab alles gehört«, sagte er. Er fuhr sich mit der Zunge über die faltigen Lippen, und sein Gesichtsausdruck war nachdenklich.

»Knochen, eh? Menschliche Knochen.« Er holte tief und rasselnd Luft und blickte über den Kirchhof hinweg in die Ferne.

»Das ist vielleicht eine Überraschung, meinen Sie nicht?«

»Knochen?«, hakte Meredith nach, während sie nach Bamford zurückfuhren.

»Knochen. Das Land ist voll davon. Es muss nichts Ungesetzliches bedeuten.«

»Du klingst nicht so, als würdest du das glauben.« Sein Verhalten war viel zu beiläufig, dachte sie. Du machst mir nichts vor, Alan Markby. Was geht hier vor, eh?

»Ich ziehe keine voreiligen Schlüsse oder so«, sagte er virtuos.

»Die Knochen wurden von einem jungen Arzt entdeckt, der über die alte Viehtrift gewandert ist. Er bog in den Wald ab, als es anfing zu regnen, fiel eine Böschung hinunter und voilà!, da lag ein Haufen Knochen, die er als menschliche Knochen erkannte.« Meredith überlegte.

»Ruth hat, wie mir scheint, ziemlich nervös darauf reagiert.«

»Wer? Ach so, Mrs. Aston. Sie ist die Tochter vom alten Pattinson, sagst du? Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, dass ich ihrem Vater vor vielen Jahren begegnet bin.« Meredith sagte mit einem Seitenblick:

»Tut mir Leid, wenn ich vorhin so großes Aufhebens darum gemacht habe, dass du schon mal hier gewesen bist.« Er schüttelte den Kopf.

»Ich hätte es dir erzählen sollen. Du hattest Recht mit dem alten Vikariat. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich mit dir hier rausgefahren bin, um es zu besichtigen. Ich wusste schon vorher, dass es ein großes Haus ist. Viel zu groß.«

»Ich gehe wieder zu den Maklern«, erbot sich Meredith.

»Es muss doch auch noch andere Häuser geben.« Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück.

»Hast du einen Blick auf diese Kirche geworfen, als du damals hier warst?«

»Warum? Ist sie interessant?«

»O ja. An der Außenwand gibt es ein Relief vom Grünen Mann. Wir haben es uns angesehen, als du zurückgekommen bist. Ruths Vater war sehr an dieser Legende interessiert.«

»Es gibt da eine Farm«, sagte Alan unvermittelt.

»Sie nennt sich Greenjack Farm. Sie zieht sich entlang Stovey Woods. Ich war damals einmal dort. Die Legende vom Grünen Mann muss irgendwie mit dem Namen in Verbindung stehen.« An dieser Stelle wechselten sie das Thema, und Meredith fasste insgeheim den Entschluss, irgendwann einmal in die öffentliche Bibliothek zu gehen und die Legende vom Grünen Mann nachzuschlagen, während Markby ganz eindeutig mit anderen Dingen beschäftigt war.

KAPITEL 4

VON DER KIRCHE bis zu Ruths Haus war es nicht weit. Sie wäre die Strecke zu Fuß gegangen, hätte sie nicht den Wagen benötigt, um ihren eigenen Staubsauger zu transportieren, mit dem sie den Teppich in der Sakristei reinigte. Sie stieß ein leises Schnauben aus, als sie die plumpe alte Maschine mühevoll auf den Rücksitz wuchtete. Ein Teppich, also wirklich! Er war kaum den Namen wert. Er bestand im Grunde genommen nur noch aus den rückwärtigen Fäden mit Spuren von Blau und Rot, die ein längst verlorenes Muster markierten. Er hatte schon zu den Zeiten ihres Vaters in der Sakristei gelegen, und wahrscheinlich auch zu den Zeiten seines Vorgängers. Die Aussichten, dass er irgendwann einmal ersetzt wurde, waren denkbar gering, heute mehr denn je. Vielleicht sollten sie und Hester ihn einfach zusammenrollen und verbrennen. Doch sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Der Teppich in der Sakristei symbolisierte Lower Stovey für sie und den Widerstand gegen Veränderung. Manche Leute mochten es, in der Zeit stecken zu bleiben. Ruth nicht. Sie betrachtete es als eine Zurückweisung von Erleuchtung und Hoffnung. Stück für Stück witterte beides vor sich hin, bis nichts mehr von wirklicher Bedeutung übrig war. Vielleicht würde sich Lower Stovey in eine Gemeinde wie Brigadoon verwandeln, die in hundert Jahren nur einmal zum Leben erwachte. Manchmal, wenn sie in philosophischer Stimmung war, fragte sie sich, ob sie überhaupt alle wirklich existierten oder ob sie nur zu existieren träumten, genau wie der chinesische Weise und der Schmetterling, von denen ihr Vater erzählt hatte, als sie ein Kind gewesen war. Bin ich ein Mensch, der träumt, dass er ein Schmetterling ist? Oder ein Schmetterling, der träumt, dass er ein Mensch ist? Doch Ruth wusste, dass sie real war. Und das Lower Stovey real war. Es existierte, weil die Stovey Woods existierten. Nichts, das Anlass zu solcher Pein gab, konnte weniger als real sein. Sie fuhr die kurze Strecke in gemessener Geschwindigkeit und bog in die Auffahrt an der Seite von Old Forge. Sie hielt an, stieg aus und zerrte den Staubsauger aus dem Wagen, um ihn wie einen einsamen Wächter auf dem Weg stehen zu lassen, während sie den Wagen in die Garage steuerte. Sie wollte ihn nach drinnen tragen, doch irgendwie ließ sie ihn einmal mehr auf der Zufahrt stehen, nachdem sie das Garagentor geschlossen und den schweren Staubsauger bis zur Haustür geschleppt hatte. Sie ging zum Ende ihres kleinen ordentlichen Gartens und starrte über die Hecke auf die fernen Stovey Woods. Das tat sie häufig. Der Wald übte eine grausige Faszination auf sie aus. Sie spürte seine Anziehungskraft. An regnerischen Tagen wie diesem schien er noch näher zu sein. Die dunkle Masse ruhte in einer Vertiefung in der Landschaft. Wie ein Sumpf, dachte Ruth, in den sich alles Böse, alles Widerwärtige und alles Schändliche ergossen hat. Der Boden unter ihren Füßen war durchweicht, und die Grasspitzen zeichneten nasse Spuren entlang ihrer Knöchel. Alles sah aus wie frisch gewaschen, und nach der kürzlichen erstickenden Hitze herrschte angenehme Kühle. Es roch auch anders. Nach feuchter Erde. Altem Laub. Friedhofsgeruch. Geruch nach Gräbern.

»Ruth? Was machst du?« Sie zuckte zusammen beim Klang der Stimme und wandte sich schuldbewusst um. Offensichtlich hatte sich heute jeder vorgenommen, aus dem Grün zu springen und sie zu erschrecken. Hester war auf der anderen Seite einer Ligusterhecke aufgetaucht, wo sie ungesehen gearbeitet hatte. Sie hatte die Arme voll mit Rhabarber, dessen große Blätter und dunkelrote Stangen wie ein grotesker Blumenstrauß aussahen.

»Ich hab ihn geerntet, weil er so groß geworden ist. Nach all dem Regen haben wir morgen schon wieder neuen. Ich hatte überlegt, ob ich nicht Rhabarber-Ingwer-Marmelade machen soll. Nicht mit diesem hier, damit mache ich einen Pudding.« Ruth war erleichtert, das zu hören. Sie hatten mehr Marmelade aller möglicher Sorten, als sie jemals essen konnten. Marmelade einzukochen war eines von den Dingen, die Hester tat, um ihre Dankbarkeit dafür zu zeigen, dass sie bei Ruth wohnen durfte. Die beiden Frauen waren schon sehr lange befreundet. Sie waren als junge Mädchen gemeinsam zur Universität gegangen, hatten nächtelang wach gesessen, um über obskure Autoren zu diskutieren, den neuesten Tratsch ausgetauscht und gewaltige Zukunftspläne geschmiedet. Und hier sind wir gelandet, dachte Ruth. Wir beide, hier draußen am Ende der Welt, unsere Laufbahn als Lehrerinnen hinter uns und vor uns – was? Ja, was? Bevor Billy Twelvetrees mit seinen beunruhigenden Neuigkeiten eingetroffen war, hätte Ruth noch gesagt, dass nichts vor ihnen lag außer einem langweiligen Rentnerdasein. Die Tage hatten hin und wieder Belebung erfahren durch eine Fahrt nach Oxford um der alten Zeiten willen oder nach Cheltenham zu den National Hunt Racing Fixtures. Sie waren bescheidene Spielerinnen, die eher gelegentlich als regelmäßig wetteten, doch sie sahen sich gerne Pferde an und mischten sich in die Besuchermengen aus Irland, die jedes Jahr das Frühlingsfestival überschwemmten. Die allgegenwärtige Aufregung wirkte ansteckend. Nach London fuhren sie nur selten. Die Straßen der Riesenstadt waren verstopft mit Verkehr, überall stank es nach Abgasen, die Bürgersteige waren bevölkert mit eiligen Menschen, blass in den Gesichtern, Leere in den Augen und Stress im Verhalten. Die Freude, die die Menschen beim Pferderennen ausstrahlten, schien völlig zu fehlen. Wenn die Londoner überhaupt irgendetwas merkten, dann den geflügelten Streitwagen der Zeit. Hester und Ruth hingegen hatten ein Stadium im Leben erreicht, wo die Zeit nicht länger ihr Meister war. Sie hatten nicht immer zusammengewohnt, doch sie waren während all der Jahre im Berufsleben stets in Kontakt geblieben. Hester hatte nie geheiratet. Ruth hatte erst sehr spät geheiratet. Es war der Tod von Ruths Ehemann gewesen, der Hester nach Lower Stovey geführt hatte, zuerst nur für ein paar Wochen, um Ruth Gesellschaft zu leisten. Es war während eines Sommers gewesen. Hester hatte damals noch unterrichtet, und es waren Schulferien gewesen, doch sie sehnte sich nach einer vorzeitigen Pensionierung. Sie hatte genug. Irgendwie waren die Frauen schließlich darin übereingekommen, dass Hester ihre Pensionierung beantragen würde, sobald sie wieder zurück an der Schule war, und dass sie am Ende des folgenden Schuljahres für unbegrenzte Zeit nach Lower Stovey zurückkehren würde, bis sie wieder zu Kräften gekommen war und sich gesammelt hatte. Aus diesem Sammeln war eine permanente Nische im Old Forge Cottage geworden. Gelegentlich sagte Hester mit nervösem Kichern:

»Ehrlich, Ruth, es wird allmählich höchste Zeit, dass du mich vor die Tür setzt.« Ruth sah stets die Angst in Hesters Augen, wenn sie so etwas sagte. Sie wusste, dass Hester eine Bestätigung brauchte, und Ruth gab sie ihr jedes Mal.

»So ein Unsinn – was sollte ich denn ohne dich anfangen?« Und dann schoss jedes Mal Erleichterung in Hesters offenes, wettergegerbtes Gesicht, und sie bedankte sich am Abend damit, dass sie irgendein kompliziertes Gericht für sie zubereitete. Sie war eine ausgezeichnete Köchin. Ruth hingegen war ungestüm und schlampig in der Küche, und ihre Biskuits kamen als flache Pfannkuchen aus dem Ofen, ihr Gebäck erforderte ein Brotmesser zum Schneiden, und sie war dankbar, dass Hester das Kochen übernommen hatte. Der einzige Nachteil war, dass Hester nicht immer wusste, wann sie aufhören musste. Französische Saucen und schmackhafte Currys, gefolgt von Süßspeisen mit Sahne oder Baisers, waren alle schön und gut, doch manchmal sehnte sich Ruth nach einer einfachen Bratwurst mit Kartoffelpüree oder guten alten Bohnen auf Toast.

»Rhabarberstreusel wäre nicht schlecht«, sagte Ruth in diesem Augenblick. Hester strahlte sie an.

»Dann mache ich einen Rhabarberstreusel! Ich schneide nur eben die Blätter ab und bringe sie auf den Kompost. Sie sind nämlich giftig, weißt du?« Sie schüttelte eine Rhabarberstange mit einem großen Schirmblatt in Ruths Richtung.

»Rhabarber?«

»Nein, nur die Blätter, nicht die Stängel. Die Blätter darf man nicht essen.«

»Wer will denn Rhabarberblätter essen?«, fragte Ruth.

»Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, was Leute alles tun«, entgegnete Hester mit unheilschwangerer Stimme.

»Erinnerst du dich an den schrecklichen Tumult vor ein paar Jahren bei der Gartenschau, als jemand Rhabarber als eine Frucht vorgestellt hat und jemand anders widersprach und behauptete, es wäre ein Gemüse? Und die Erste wiederum, wer war es noch gleich? Ich glaube, es war Evie, aus dem Pub. Sie sagte, wie Rhabarber denn ein Gemüse sein könnte, wenn man ihn im Pudding isst. Ich glaube, sie haben das Problem dadurch gelöst, dass sie den Rhabarber am Ende in eine eigene Klasse gesteckt haben.« Ruth lächelte Hester an. Es war nicht nur die Erleichterung, sich nicht mehr mit dem Kochen abplagen zu müssen, die es nett machte, Hester bei sich zu haben. Sie beteiligte sich an den Unterhaltskosten für das Haus und den Wagen, und beides war nützlich. Sie war jemand, mit dem Ruth sich des Abends entspannt unterhalten konnte, wie es nur mit alten Freunden ging. Ruth mochte Hester, und obwohl es auf eine Zeit zurückging, die Ruth lieber zu vergessen suchte, sie war ihr etwas schuldig, das sie niemals würde zurückzahlen können. Sie hatte Hester das Old Forge Cottage in ihrem Testament vermacht, für den Fall, dass sie vor ihrer Freundin sterben sollte. Es erschien ihr nur fair, und außerdem gab es sonst niemanden. Niemanden, dem Ruth etwas hätte hinterlassen können.

»Wohin siehst du?«, fragte Hester und kam in ihren stabilen Gartenschuhen zu ihr gestapft. Die weiten Kordhosen mit Feuchtigkeitsflecken an den Säumen flatterten um ihre Knöchel.

»Stovey Woods«, sagte Ruth einfach. Einen Moment lang schwieg Hester.

»Warum?«, fragte sie dann schroff.

»Old Billy Twelvetrees kam heute in die Kirche und erzählte, dass die Polizei nach Stovey Woods gefahren wäre. Wie es scheint, hat irgendjemand ein paar Knochen gefunden.«

»Tierknochen«, sagte Hester.

»Nein, Menschenknochen.«

»Old Billy hat wahrscheinlich irgendwas falsch verstanden.« Ruth schüttelte den Kopf.

»Ich habe einen Polizisten und seine Freundin getroffen, die nach Lower Stovey gekommen waren, um das alte Vikariat zu besichtigen. Die Frau kam in die Kirche, und später kam ihr Freund hinzu und erzählte uns, dass es Menschenknochen sind, die gefunden wurden. Schlimmer noch, Old Billy hat es auch gehört.« Hester kam einen Schritt näher und sagte grimmig:

»Es sind wahrscheinlich antike Knochen. Du weißt ja, wie alt diese Viehtrift ist. Sie verläuft schnurgerade durch den Wald. Irgendein Tier hat im Boden gescharrt und einen Bauern aus dem Mittelalter ausgegraben oder irgendeinen Zigeuner, wer weiß. Du wirst sehen, ich habe Recht.« Ruth drehte sich zu ihr um und lächelte wieder.

»Ja, Hester, wahrscheinlich hast du Recht. Trotzdem, ich konnte nicht anders, ich habe mich gefragt, nur für einen Moment, verstehst du, ob sie vielleicht Simon gefunden haben.« Die beiden Frauen starrten sich an. Dann riss sich Hester zusammen.

»Unsinn!«, sagte sie.

»Er muss schließlich irgendwo sein, oder?«, entgegnete Ruth.

»Aber doch nicht in den verdammten Stovey Woods!« Sie hatten diesen Streit schon früher ausgetragen. Ruth hatte schließlich nachgegeben, nicht, weil sie einräumte, dass Hester Recht hatte, sondern weil sie, Ruth, es besser wusste und weil es deswegen nicht notwendig war, dass Hester oder sonst irgendjemand ihr zustimmte. Sie gingen gemeinsam zum Haus zurück. Ruth folgte Hester in die Küche und sah ihr zu, wie sie die Rhabarberstangen unter dem Wasserhahn abwusch.

»Man sollte nicht für möglich halten, dass sie nach diesem Regen noch mal gewaschen werden müssen«, sagte Hester in einem Versuch, wie Ruth wusste, die Konversation von der schauderhaften Entdeckung wegzulenken. Doch es gehörte mehr dazu als das, um sie aus Ruths Gedanken zu vertreiben. Billy Twelvetrees fiel ihr ein, und sie schlug vor:

»Wenn du vom Rest vorhast, Marmelade zu machen, warum gibst du Dilys nicht ein oder zwei Gläser oder stellst sie dem guten alten Billy vor die Tür, wenn du vorbeikommst? Ich bin sicher, der alte Bursche würde sich darüber freuen.« Es war eine Eingebung des Augenblicks gewesen, diesen Vorschlag zu machen, trotzdem hatte sie das Gefühl, als versuchte sie, den Alten irgendwie zu kaufen, was natürlich dumm war. Oder doch nicht?

»Gütiger Gott!«, platzte sie hervor und vergrub das Gesicht in ihren Händen.

»Na komm.« Hester war bei ihr, tröstend, verlegen, ernst, und tätschelte ihr mit der nassen Hand die Schulter.

»Die Chance, dass diese elenden Knochen … dass es seine sind, stehen eins zu einer Million. Du weißt doch nicht mal, wo er ist. Niemand weiß es!«

»Ich habe immer gewusst, wo er war«, sagte Ruth und nahm die Hände vom Gesicht.

»Er war in Stovey Woods, all die Jahre, und hat darauf gewartet, dass wir ihn finden. Und jetzt hat jemand anders ihn gefunden. Du wirst sehen.«

Die Entdeckung der Knochen bedeutete, dass Ruth etwas unternehmen musste. Etwas, das sie schon vor Jahren hätte tun sollen. Sie ließ Hester in der Küche zurück, wo sie munter Rhabarber schälte und Kuchen backte für das Mittagessen, ihre Hauptmahlzeit für diesen Tag. Ruth schlüpfte in ihr Schlafzimmer und nahm ein kleines Rosenholzkästchen aus den Tiefen ihres Kleiderschranks.

Es war ein recht kleines Kästchen, eine viktorianische Reiseschatulle, ursprünglich mit verschiedenen Unterteilungen versehen, um die verschiedenen Salben, Heilmittel und andere medizinische Notwendigkeiten des Tages unterzubringen. Sie hatte ihrem Vater gehört, und er musste es gewesen sein, sinnierte sie, der die Unterteilungen entfernt hatte, sodass nur noch die Schatulle übrig geblieben war, um Papiere darin aufzubewahren. Er hatte Rechnungen und Quittungen darin aufbewahrt, die mit der Kirche zu tun hatten. Sie stellte die Schatulle auf ihr Bett und holte den Schlüssel, den sie unter einer Vase auf dem Kaminsims aufbewahrte. Sie schloss die Schatulle auf und öffnete sie an dem kleinen Messinggriff in der Mitte des Deckels. Ein vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase, zusammengesetzt aus den Erinnerungen an die ursprüngliche Bestimmung des Kästchens, einem stechenden Hauch Riechsalz, einem schwereren, süßlicheren Geruch, der vermutlich Laudanum gewesen war, süßem Lavendelöl, scharfem Pfefferminz und dem exotischen Aroma von Gewürznelken. Die Schatulle enthielt immer noch Papiere, Umschläge, abgenutzt vom vielen Berühren und ein wenig vergilbt.

Ruth nahm sie hervor und breitete sie auf dem Bett aus. Der Anblick der Handschrift, in welcher die Worte Miss Ruth Pattinson verfasst waren, verursachte einen schmerzenden Kloß irgendwo in ihrem Hals. Es war keine Trauer, die sie spürte – die Trauer war vor vielen Jahren gestorben. Es war auch kein Zorn, der war ebenfalls längst tot. Die Anstrengungen, die Flamme am Leben zu halten, waren zu groß gewesen. Was war es dann? Scham? Oder etwas so Banales wie Verlegenheit? Man sollte Verlegenheit als Emotion niemals unterschätzen, dachte sie melancholisch. Es gab viel mehr Dinge, die aus diesem Motiv heraus geschehen – oder unterblieben – waren, als aus irgendeinem anderen, besser angesehenen Beweggrund.

Ihre Finger bewegten sich wie aus eigenem Willen, nahmen den nächsten Umschlag zur Hand und zogen den darin liegenden Brief hervor. Der Schmerz in ihrer Kehle wurde stärker. Wie eifrig sie den Umschlag beim ersten Mal aufgerissen hatte, vor all den Jahren. Wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, endlich den Inhalt zu lesen, jedes Wort darin als ein Wort der Liebe und Hingabe zu interpretieren und seinen beiläufigen Versicherungen zu glauben, dass sie das einzige Mädchen war, das er liebte. In ihren Augen waren diese oberflächlichen Bemühungen gleichbedeutend gewesen mit den großen Liebesbriefen der Geschichte.

»Wie dumm! Wie unendlich dumm!«, flüsterte sie.

Nicht dumm, nein, jedenfalls nicht damals. Nur naiv und verliebt und voller Sehnsucht nach etwas, von dem sie sich selbst eingeredet hatte, dass es real war. Seit langer Zeit inzwischen las sie die Worte als das, was sie in Wirklichkeit waren, spontane Erklärungen, inspiriert von Hormonen, nicht Liebe. Die Worte eines jungen Mannes, der im Herzen noch ein Junge war und in der Welt eines Mannes leben wollte, ohne auf die Freiheiten der Jugend zu verzichten, ohne die Verantwortung zu akzeptieren, die mit der Welt eines Mannes einherging. Und noch dazu ein junger Mann mit großen charakterlichen Fehlern. Selbstsüchtig und verzogen.

Im Leben gibt es immer die, die nehmen, und die, die geben, hatte ihre Mutter früher einmal gesagt. Die verstorbene Mrs. Pattinson war von einem gewissen Zynismus erfüllt gewesen, vielleicht durch die langen Jahre an der Seite eines Ehemannes, der weltlichen Dingen entsagt und bis zum Schluss versucht hatte, in seiner unverbesserlichen Schar Anbefohlener nur das Beste zu sehen. Ruth wusste, dass ihre Mutter Recht gehabt hatte mit diesen Worten. Ruth war eine von denen gewesen, die gegeben hatten, doch er, o ja, er war ein Nehmer gewesen, so viel stand fest.

Ruth schob den Brief in den Umschlag zurück und legte ihn auf einen Stapel mit den anderen. Sie konnte die Briefe nicht im Haus verbrennen – möglicherweise kam Hester herein und beobachtete ihr Tun. Hester würde es verstehen, sicher, doch sie wollte nicht, dass Hester etwas davon erfuhr. Sie würde die Briefe draußen im Garten verbrennen. Der Boden war nass, doch das spielte keine Rolle – die paar Blätter Papier benötigten kaum mehr als ein Streichholz, um von Flammen verzehrt zu werden.

Ruth schlich an der Küche vorbei. Von drinnen kam das Geräusch eines Kochlöffels, der in einer Schüssel kratzte. Hester summte leise vor sich hin. Ruth ging zur Vordertür hinaus, an der Seite des Hauses entlang nach hinten und huschte über den Gartenpfad wie eine Diebin auf ihrem eigenen Grund und Boden. Hinter der Ligusterhecke machte sie sich an die Arbeit. Es war nicht so leicht, wie sie geglaubt hatte. Ein Streichholz an einer Ecke eines Umschlags hatte lediglich zur Folge, dass das Papier anfing zu glimmen, sich braun verfärbte – und dass die Flamme dann wieder erlosch. Sie musste die Briefe aus ihren Umschlägen nehmen. Das erste Blatt, das sie auf diese Weise anzündete, wurde zu ihrem Schrecken vom Wind gepackt und noch immer brennend in die Luft getragen, um in Richtung Haus zu segeln.

»Verdammt!«, schimpfte Ruth laut.

Jedes Blatt musste einzeln zerknittert und auf einen Haufen gelegt werden, damit es nicht wegfliegen konnte. Sie stapelte alles auf, und schließlich gelang es ihr, die alten Briefe in Brand zu stecken. Das Feuer brannte zufrieden stellend, auch wenn vereinzelt schwarze Flocken davonsegelten, die ihr heimliches Tun hinter der Hecke verrieten. Sie hoffte inbrünstig, dass Hester beim Kochen nicht aus dem Fenster sah.

Hester sah nicht aus dem Fenster, doch jemand anders. Jemand, den sie völlig vergessen hatte.

»Was machen Sie da?« Die Stimme erklang dicht hinter ihr. Ruth zuckte zusammen, stieß einen leisen Schreckenslaut aus und wirbelte herum. Eine massige Gestalt in einem gefütterten Nylonmantel und bügelfreien Hosen stand vor ihr und beobachtete sie. Dilys Twelvetrees, eine mittelalte weibliche Ausgabe von Old Billy. Ihr breites Gesicht, normalerweise bar jeglichen Ausdrucks, leuchtete förmlich vor Neugier.

»Abfall verbrennen«, sagte Ruth erzwungen ruhig. Der Ausdruck auf Dilys Twelvetrees’ Gesicht verwandelte sich von neugierig in kühn.

»Sie verbrennen alte Briefe«, sagte sie. Ruth wollte sie angiften, dass es nicht ihre Angelegenheit wäre. Stattdessen murmelte sie:

»Alte Rechnungen und Geschäftsunterlagen.« Es war eine erbärmliche Ausrede, und Dilys fiel nicht eine Sekunde lang darauf herein. Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte Ruth.

»Sie wurden sitzen gelassen, hab ich Recht?«, fragte sie.

»Was um alles in der Welt soll das heißen?«, hörte Ruth sich fragen.

»Sie wurden sitzen gelassen«, wiederholte Dilys geduldig.

»Genau wie ich. Ihr Freund hat Sie verlassen. Er ist weggegangen, wie meiner.«

»Unsinn!«, entgegnete Ruth.

»Sie wissen, dass ich verheiratet war. Sie kannten meinen Mann! Er ist gestorben.«

»Ich meine nicht ihn«, sagte Dilys verächtlich.

»Davor. Ein junger Kerl.« Sie blickte zu der Stelle mit den geschwärzten Überresten und der beinahe weißen, federleichten Asche.

»Ich muss sagen, ich bin überrascht, dass Sie die Briefe so lange aufbewahrt haben«, sagte sie. Und mit diesen Worten wandte sich Dilys um und trottete in Richtung ihres Hauses davon, als wüsste sie, dass sie eine Feststellung getroffen hatte, auf die es keine Antwort geben konnte. Woher wusste sie es? Wie um alles in der Welt hatte die Frau etwas herausfinden können? War es nur Instinkt, oder – Ruths Herz hämmerte wild bei dem Gedanken – hatte Dilys den Schlüssel gefunden, war dahintergekommen, dass er zum Öffnen der Schatulle diente, und hatte die Briefe gelesen? Ruth hätte nicht für möglich gehalten, dass Dilys so viel Neugier in sich hatte. Jetzt war sie nicht mehr sicher. Zum Teufel mit dieser Frau!, dachte Ruth. Zum Teufel mit dem ganzen Twelvetrees-Clan! Dilys arbeitete bei Ruth und Hester als Reinemachefrau. Sie besorgte die

»Grobarbeiten«, schrubbte die alten Steinfliesen in der Küche, putzte Fenster, klopfte im Hinterhof an einer Stange die Teppiche aus. Im Winter räumte sie außerdem den Holzkamin im Wohnzimmer aus. Dilys war gut im Schälen von Kartoffeln und Karotten und entlastete Hester beim Zubereiten ihrer komplizierten Saucen und Gerichte. Natürlich hätten Ruth und Hester ohne Probleme all das allein geschafft. Doch was für eine andere Arbeit hätte Dilys Twelvetrees in Lower Stovey gefunden? Dilys Arbeit zu geben war etwas, das Reverend Pattinson, Ruths Vater, als einen Akt christlicher Nächstenliebe bezeichnet hätte. Mehr noch, die Verbindung zwischen ihren Familien reichte Generationen zurück. Vor vielen Jahren hatte Dilys’ Mutter in den Diensten von Ruths Mutter gestanden und die Böden im Vikariat geschrubbt. Dilys’ Bruder, der junge Billy Twelvetrees, hatte den Rasen im Vikariatsgarten gemäht, bevor er aus Lower Stovey weggegangen war, um sein Glück draußen in der Welt zu suchen. Als Ruth und ihr verstorbener Ehemann nach Lower Stovey zurückgekehrt waren, um sich in Old Forge niederzulassen, war Dilys gleich am ersten Morgen vor ihrer Türschwelle aufgetaucht und hatte unerschütterlich verkündet:

»Sie wollen sicher, dass ich bei Ihnen putze.« Keine Frage, eine Feststellung. Und der Anblick von Dilys’ konturloser Gestalt und abgearbeiteten Händen verstärkte das Gefühl von Schuld noch, das mit sich zu tragen Ruth allem Anschein nach seit ihrer Geburt vom Schicksal auferlegt worden war. Es lastete auf ihren Schultern, und sie war nicht im Stande, es abzustreifen. Sindbad hatte den Alten Mann des Meeres auf dem Rücken, und sie, Ruth, hatte Dilys. Ruth erinnerte sich so klar an ihre erste Begegnung mit Dilys Twelvetrees, als wäre es gestern gewesen. Beide Frauen waren fünf Jahre alt, und es war ihr erster gemeinsamer Schultag gewesen. Die Schule war die Lower Stovey Church Primary School gewesen, was sonst. Sie existierte längst nicht mehr. Schwindende Schülerzahlen hatten dazu geführt, dass sie vor einer Reihe von Jahren geschlossen worden war. Das Gelände war verkauft, die Gebäude umgebaut und modernisiert worden. Heute bildeten sie eine Gruppe von Maisonettes, eigentlich recht geschickt gemacht. Die Leute, die in School Close lebten, waren zwar Einwohner von Lower Stovey, doch sie waren keine Dorfbewohner. Sie pendelten zur Arbeit nach Bamford oder sonst wohin. Gelegentlich zeigten sie sich des Abends im Fitzroy Arms, doch ansonsten blieben sie unsichtbar und nahmen nicht am Dorfleben teil. Oder, wie Ruth bei sich dachte, dem, was heutzutage noch von einem Dorfleben übrig war in Lower Stovey. Reverend Pattinson hatte es als richtig und schicklich erachtet, dass seine Tochter zusammen mit den anderen Dorfkindern die Grundschule besuchte. Die unausweichliche Privatschule würde erst später kommen. Es lag nicht daran, dass ihre Eltern es nicht ertragen hätten, Ruth viele Meilen weit weg zur Schule zu schicken. Es wäre nett gewesen, das zu denken, doch es stimmte nicht. Hätten sie beschlossen, dass es das Richtige war, sie von Anfang an auf eine Privatschule zu schicken, sie hätten sie tagaus, tagein mit dem Wagen hingefahren und abgeholt. Doch sie hatten entschieden, dass es besser war, wenn sie die Lower Stovey Church Primary besuchte. Vielleicht waren sie auch nicht unglücklich darüber gewesen, noch einige Jahre die Schulgebühren zu sparen und die Mühen des täglichen Schulweges. Doch hauptsächlich war der Vikar (mehr als seine Frau, die das Dorf besser kannte als er) der Überzeugung, dass Ruth lernen würde, wenn sie sich unter die Kinder des Dorfes mischte, und die Dorfkinder ihrerseits von Ruth. Mehr noch, die Eltern der anderen Kinder würden sehen, dass der Vikar und seine Familie nicht unnahbar waren, sondern Menschen, genau wie sie selbst, mit denen man reden konnte. Was sie nicht waren und niemals sein konnten, dachte Ruth wenig freundlich. Die vier Jahre an der Lower Stovey Church Primary waren furchtbar gewesen. Gute Absichten führen nicht zwangsläufig zu guten Ergebnissen. Ruth war von Anfang an eine Außenseiterin gewesen, ein Sonderling, auf den die anderen Kinder verächtlich herabgeblickt hatten. Sie hatte sich zu vornehm ausgedrückt. Ihr Vater arbeitete nicht mit den Händen, hatte keine richtige Arbeit. Er war irgend so ein heiliger Joseph, der in seiner Bibliothek zwischen Büchern saß. In Ruths Ohren klang heute noch nach, wie die anderen Kinder ihre Eltern zitiert und sich über die Worte lustig gemacht hatten. Der spirituelle Führer der Gemeinde war ihnen wie ein altes Waschweib erschienen. Doch seine Frau war von einem ganz anderen Kaliber gewesen. Ruths Mutter war vor ihrer Heirat mit Reverend Pattinson eine geborene Miss Fitzroy gewesen, die Letzte ihrer Linie. Sie war im Manor aufgewachsen (heutzutage ein Altenheim für die Wohlsituierten). Die älteren Dorfbewohner hatten die Eheschließung ignoriert und sie weiterhin als

»Miss Mary« angesprochen. Die Frau des Vikars fuhr einen Wagen, im Gegensatz zu allen anderen Frauen im Dorf vor fünfzig Jahren. Einmal in der Woche fuhr sie damit nach Bamford, um sich bei einem richtigen Friseur die Haare waschen und legen zu lassen, und zweimal im Jahr unternahm sie eine Expedition per Zug nach London, wo sie sich, wie die Dorfbewohner ehrfürchtig tuschelten, bei Harrod’s Hairdressing Department die Haare schneiden ließ. Die Frauen im Dorf machten sich gegenseitig Dauerwellen, die in feuchtem Wetter kraus wurden und ihre Besitzerin aussehen ließen, als hätte sie einen elektrischen Schlag erlitten. An ihrem ersten Schultag war Ruth mittags verwirrt gewesen, als man ihr sagte, es wäre nun Dinner-Zeit, und wenn sie nicht in der Schule essen wolle, solle sie nach Hause gehen und um zwei Uhr zurückkehren. Im Vikariat aßen sie ihr Dinner abends. Sie verursachte allgemeine Erheiterung, als sie sagte:

»Oh, Sie meinen den Lunch.« Nur, dass sie eigentlich hätte sagen sollen

»Luncheon«, denn der Vikar war sehr genau in derartigen Kleinigkeiten. Es war einer jener zahlreichen Fauxpas, die Ruth niemals vergessen durfte. An jenem ersten Schultag hatte sie direkt neben Dilys Twelvetrees gesessen und war gestresst gewesen wegen des merkwürdigen Geruchs, der von dem Kind aufstieg. Später war sie im Stande, den Geruch zu identifizieren. Er stammte von ranzigem Bratfett und gekochtem Kohl, und der Geruch haftete an Dilys’ Kleidung, die nur selten gewaschen wurde. Genau wie Dilys, was das anging. Um fair zu sein, die Mehrheit der Eltern im Dorf hätte wahrscheinlich nicht im Traum daran gedacht, ihren Nachwuchs anders als frisch und sauber zur Schule zu schicken, die Jungen mit militärisch kurzem Haarschnitt und die Mädchen mit ordentlich geflochtenen Zöpfen. Doch die Familie Twelvetrees war nicht, wie Ruth bald herausfand, wie andere Familien. Die übrigen Dorfbewohner begegneten den Twelvetrees mit Misstrauen und Nervosität. Sie waren ebenfalls gewissermaßen Außenseiter, und Ruth fragte sich manchmal, ob der Klassenlehrer die beiden Mädchen aus diesem Grund nebeneinander gesetzt hatte, in der Hoffnung, dass individuelle Isolation sie dazu bringen würde, Freundschaft zu schließen. Falls das der Plan gewesen war, so hatte er nicht funktioniert. Dilys mochte

»eine von diesen Twelvetrees« sein, doch sie hatte Teil an der allgemeinen Herablassung gegenüber Ruth. Dilys hatte zwei ältere Geschwister, die ebenfalls in die Primary School gingen, Young Billy (der damals schon so gerufen wurde) und Sandra Twelvetrees. Ruth hatte wenig zu tun mit Young Billy, der ein freundlicher, unbelehrbarer Zehnjähriger war mit einem Hang, die Schule zu schwänzen. Sandra und Dilys waren schlecht ernährt und schlecht gekleidet. Dilys war noch schlechter angezogen als ihre ältere Schwester, weil sie die Sachen auftragen musste, die Sandra zu klein geworden waren, und Sandras Sachen waren schon von jemand anderem getragen worden. An einem besonders schrecklichen Tag war Dilys in einem Baumwollkleidchen in der Schule erschienen, das Ruth im Jahr zuvor getragen und das Dilys’ Mutter für ein paar Pence auf einem Flohmarkt der Kirche erstanden hatte. Es war zu eng im Bund und länger gemacht worden, doch mit einem Stoff in anderer Farbe. Ruth war furchtbar verlegen gewesen, doch Dilys hatte sie gehasst und zusammen mit anderen grüne Posterfarbe über Ruths akribisch gemaltes, eben erst beendetes Bild von der Königin in ihrer Krönungskutsche geschüttet. Im Winter trugen die Twelvetrees-Geschwister selbst gestrickte Pudelmützen. Ihre Schuhe waren niemals sauber, genauso wenig wie ihre Zähne. Was der Grund dafür ist, dachte Ruth traurig, dass ich meine eigenen Zähne noch habe und die arme Dilys mit einem Gebiss herumläuft. Mehr noch, es hatte eine Sache an Dilys und Sandra gegeben, die das Kind Ruth im Stillen zugleich faszinierte als auch erschreckte. Von Zeit zu Zeit hatten sie an den Armen und Beinen unerklärliche blaue Flecken – nicht die Sorte Schrammen, die man sich beim Hinfallen zuzog, wenn man sich auf dem Spielplatz die Knie aufschlug. Es waren kleine blaue Flecken, und es waren immer mehrere nebeneinander. Ruth wagte nie, Dilys nach der Ursache zu fragen. Wie um alles in der Welt konnte mein Vater bloß auf den Gedanken kommen, ich würde auf die Lower Stovey Primary passen?, fragte sich Ruth heute nicht zum ersten Mal. Die Lehrer waren freundlich gewesen, doch das hatte die Dinge nur verschlimmert. Die anderen Kinder hatten sie deswegen gehänselt und Spottverse über sie gedichtet. Es stimmte, dass sie sich niemals danebenbenahm. Sie konnte nicht. Sie war die Tochter des Vikars, und er hatte ihr gesagt – genau wie ihre Mutter –, dass sie ein Vorbild sein musste. Ein Vorbild in welcher Hinsicht? Mit fünf Jahren begreift man so etwas nicht. Ruth hatte es so interpretiert, dass man stets tat, was einem gesagt wurde, und niemals ohne Erlaubnis des Lehrers den Mund öffnete. Ursprünglich hatte sie auf der Lower Stovey Church Primary leiden sollen, bis sie elf war. Doch eines Tages, mit neun Jahren, war sie nach Hause gekommen und hatte unschuldig einige neue Worte nachgeplappert, die sie an jenem Morgen auf dem Schulhof gelernt hatte. Diese Worte (von denen sie damals nicht die geringste Ahnung gehabt hatte, was sie bedeuteten) waren offensichtlich so böse, dass es als erforderlich angesehen wurde, sie auf der Stelle von dieser Schule wegzuholen. Der Tag, an dem sie zum letzten Mal durch das Schultor nach draußen marschiert war, war einer der glücklichsten in ihrem Leben gewesen. Hernach war sie, trotz ihrer jungen Jahre, auf eine Privatschule geschickt worden, eine gestrenge Institution in Dartmoor, die einen großen Teil ihrer Regeln mit dem berühmten dortigen Gefängnis gemeinsam hatte. Von jenem Tag an hatte sie Lower Stovey nur noch in den Ferien besucht und später, während des Studiums, in den Semesterferien. Die Briefe ihrer Mutter erwähnten gelegentlich das eine oder andere Ereignis im Dorf und hielten Ruth auf dem Laufenden über ihre ehemaligen Schulkameradinnen. Sandra heiratete einen Soldaten und ging mit ihm ins Ausland, was Ruth schwer vorstellbar fand. Dilys heiratete ebenfalls, doch sie wurde innerhalb eines Jahres von ihrem Ehemann verlassen. Sie kehrte nach Hause zu ihren Eltern zurück, was Mrs. Twelvetrees (die ebenfalls von Zeit zu Zeit merkwürdige blaue Flecken hatte) gar nicht ungelegen kam, war sie doch durch eine Krankheit in den Beinen an das Haus gebunden. Sie starb nicht lange darauf, und Dilys blieb, um für ihren alternden Vater den Haushalt zu führen. Ihr Ehename wurde in allgemeinem Einverständnis aufgegeben, und sie war wieder zu Dilys Twelvetrees geworden, als wäre ihre Ehe nicht mehr als ein falsches Radarecho gewesen, das man getrost ignorieren konnte. Und so war es bis zu Ruths Rückkehr nach Lower Stovey vor etwas mehr als zwölf Jahren gewesen. Ihre Eltern waren zu diesem Zeitpunkt beide bereits gestorben. Das Vikariat war ein privates Haus geworden, in dem Muriel Scott mit ihrem Hund Roger wohnte, damals ein ungestümer Welpe, von dem seine Herrin jedem unbekümmert versicherte, dass er schon ruhiger werden würde, sobald er erst älter war. Wäre es doch nur so gewesen! Das Alter schien – in Rogers Fall – den Verlust jeglicher hündischen Vernunft zu bewirken, die das Tier je besessen hatte. Die Lower Stovey Church Primary stand dicht vor der Schließung. Irgendwie war Dilys’ Auftauchen auf ihrer Türschwelle an jenem ersten Morgen alles andere als unwillkommen gewesen, beinahe ein Trost. Wenigstens etwas hatte sich nicht geändert. Wahrscheinlich sogar überhaupt nicht. Ruth fragte sich manchmal, ob Dilys sie insgeheim immer noch verachtete.

KAPITEL 5

DAVE PEARCE stand vor dem Badezimmerspiegel, den Mund so weit geöffnet, wie es physisch möglich war, und vollführte eine Serie von Grimassen in dem Bemühen, die eigenen Zähne zu inspizieren. Der Spiegel hing ungünstig und nicht hoch genug für ihn. Tessa bestand darauf, dass er zu hoch wäre für sie, wenn er ihn auch nur einen Zentimeter höher hängte. Was bedeutete, dass er halb geduckt und in einer Haltung stehen musste, die recht anstrengend war. Das Licht war ebenfalls nicht hell genug. Wenn er sich dem Spiegel weiter näherte, beschlug er von seinem Atem, und Dave konnte überhaupt nichts mehr sehen. Er hakte einen Finger in die Unterlippe, zog sie nach unten und drehte den Kopf seitwärts, was eine weitere preisverdächtige Grimasse auf jedem Fratzenschneidewettbewerb hervorrief. Der Zahn sah ganz in Ordnung aus. Also warum um alles in der Welt fühlte er sich jedes Mal, wenn er auf dieser Seite kaute oder etwas Heißes oder Kaltes trank, so an, als hätte ihm jemand eine rot glühende Nadel in den Kiefer gerammt? Er gab seine Bemühungen auf und beendete seine Rasur. Vermutlich konnte er auf dem Weg zur Arbeit bei einem Zahnarzt vorbeischauen und einen Termin vereinbaren. Er trampelte die Stufen hinunter. Als er den Flur erreichte, öffnete sich die Haustür, und Teresa erschien mit gerötetem Gesicht. Sie zerrte einen gescheckten, sich sträubenden Spürhund hinter sich her.

»Ich war mit Henry Gassi«, sagte sie mit einer bedeutungsschwangeren Stimme.

»Ich hab doch gesagt, dass ich es mache«, erwiderte Pearce lahm.

»Reden allein nutzt nichts, oder? Ich habe schon geglaubt, du würdest nie wieder aus diesem Badezimmer kommen. Ich bin einmal um den Sportplatz mit ihm gelaufen. Heute Abend kannst du mit ihm rausgehen. Du bist an der Reihe!«

»Schon gut, schon gut. Ich gehe mit ihm raus.« Pearces Stimmung wurde gereizt. Henry klappte sich auf dem Boden zusammen, legte den Kopf auf die Pfoten und verdrehte die Augen nach oben, während er interessiert seine Besitzer beobachtete.

»Ich weiß, warum du so lange da oben gewesen bist!«, verkündete Tessa mit vor der Brust verschränkten Armen.

»Es ist dieser blöde Zahn! Ich hab dir gleich gesagt, du sollst dir einen Termin beim Arzt holen!«

»Ja, ja. Ich hol mir ja einen«, versprach er.

»Sicher. Genau wie du versprochen hast, mit Henry rauszugehen. Du schiebst immer alles vor dir her, David.« Dave Pearce wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte, wenn sie ihn so nannte.

»Ich verspreche dir«, sagte er,

»dass ich heute irgendwann, wenn ich nicht zu viel zu tun habe, beim Zahnarzt anrufe und mir einen Termin geben lasse. Und wenn ich nach Hause komme, gehe ich gleich als Erstes mit Henry nach draußen.«

»Ich komme zu spät zur Arbeit«, wechselte sie mühelos zu einem weiteren Ärgernis.

»Du musst mich mitnehmen und unterwegs absetzen.«

»Aber das bedeutet …«, begann Pearce, ohne den Satz zu beenden.

»Also schön«, resignierte er.

»Dann mach, dass du fertig wirst, sonst kommen wir beide zu spät.«

»Ich soll machen, dass ich fertig werde? Weißt du, Dave, für jemanden mit einem so verantwortungsvollen Job, wie du ihn hast, bist du alles andere als gut darin, Verantwortung für unser Zuhause zu übernehmen. Du kannst nicht einfach abschalten, weißt du, wie ein … ein Fernseher. Ein Leben in der Kiste, ein anderes draußen. Ich meine …« Tessa wurde bewusst, dass ihr Vergleich einen recht komplizierten Weg hinunterführte.

»Natürlich möchte ich nicht, dass du Arbeit mit nach Hause bringst. Ich bringe meine Arbeit ja auch nicht mit nach Hause, oder? Ich habe jede Menge zu tun bei der Baugesellschaft. Trotzdem lasse ich mein Verantwortungsgefühl nicht am Schreibtisch zurück, wenn ich am Ende des Tages aufhöre zu arbeiten. Du hingegen …«

»Herrgott noch mal, steig endlich in den Wagen!«, explodierte Pearce.

»Du musst mich nicht anbrüllen. Du verhaftest mich schließlich nicht, weißt du? Ich bin nicht irgend so ein Rowdy mit zu viel Bier intus. Wenn du noch einen Moment warten würdest – ich muss meine Schuhe wechseln.«

»Kannst du das nicht im Wagen?«

»Ich müsste sie überhaupt nicht wechseln, wenn ich nicht mit Henry hätte gehen müssen! Und ich hätte nicht mit Henry gehen müssen, wenn du nicht die ganze Zeit im Badezimmer gesteckt und an deinem Zahn rumgefummelt hättest! Wenn wir heute Morgen zu spät zur Arbeit kommen, David Pearce«, beendete Tessa diese Tour de Force der Logik,

»dann nur deswegen, weil du Angst vor dem Zahnarzt hast! So, jetzt weißt du es«, fügte sie hinzu. Manchmal, dachte Pearce, ist Polizeiarbeit wirklich ein Kinderspiel im Vergleich zu häuslichem Leben. Er stieß einen Seufzer aus. Henry stöhnte mitfühlend von seinem Platz auf dem Läufer.

Alan Markby saß an seinem Schreibtisch. Er war an diesem Morgen schon früh zur Arbeit gekommen, als das Reinigungspersonal noch zugange gewesen war. Als er jedoch den Telefonhörer von der Gabel nahm und im Archiv anrief, stellte er fest, dass bereits jemand dort war, auch wenn der Tonfall der antwortenden Stimme die Vermutung nahe legte, dass der Betreffende gerade erst eingetreten war und noch dabei, sich aus dem Mantel zu schälen.

»Was gibt’s denn?«, fragte die Stimme kurz angebunden. Laut fügte sie an die Adresse von jemand anderem hinzu:

»Ja, bring mir bitte einen Kaffee mit und ein Schinkensandwich.«

Markby identifizierte sich und amüsierte sich im Stillen angesichts der augenblicklichen Änderung des Verhaltens und des Tonfalls.

»Jawohl, Sir. Sorry, Mr. Markby, ich wusste nicht, dass Sie es sind. Ich bin gerade erst reingekommen. Was können wir für Sie tun, Sir?«

»Sie können eine alte Akte für mich heraussuchen«, sagte Markby.

»Es geht um einen Serienvergewaltiger, einen ungelösten Fall, und der Täter wurde damals ›Kartoffelmann‹ getauft.« Er nannte das Datum und das Revier, das damals für den Fall zuständig gewesen war.

»Ich bringe die Akte direkt zu Ihnen nach oben«, versprach die Stimme.

Markby ging nach draußen in den Korridor und zog sich an der Maschine dort etwas zu trinken. Er nahm an, dass es sich um Tee handelte, denn er hatte die entsprechend beschriftete Taste gedrückt, doch ohne diesen Hinweis wäre wahrscheinlich niemand darauf gekommen. Obwohl er normalerweise keinen Zucker nahm, hatte er sich diesmal für die gesüßte Version entschieden, weil dadurch der übliche Geschmack von verbranntem Kakao maskiert wurde, der jedem Getränk anzuhaften schien, das diese Maschine lieferte.

Er kehrte mit seinem Tee zurück ins Büro. Seine Schritte hallten durch das noch immer halb leere Gebäude. Zurück im Büro stand er mit dem Becher in der Hand da und starrte aus dem Fenster, doch er nahm weder den asphaltierten Parkplatz noch den Verkehr unten auf der Straße wahr, genauso wenig wie die ameisenartigen Haufen von Männern und Frauen unterwegs zur Arbeit. Er sah nur Stovey Woods.

Gelegentlich wanderte sein Blick von der Landschaft draußen zu seinem Schreibtisch und dem zerknitterten Paket darauf.

»Wer bist du?«, murmelte er leise.

Waren es nur Knochen? Oder waren es Knochen, die ihnen noch etwas erzählen konnten? Damals, vor der Entdeckung der Röntgenstrahlen, war ein Skelett das Sinnbild der Sterblichkeit gewesen, ein kompliziertes, kunstvolles Rahmenwerk des menschlichen Körpers, erst zu sehen, nachdem der Besitzer längst verstorben und zu Staub geworden war. Es hing in Stein gehauen grinsend an der Fassade manch einer mittelalterlichen Kathedrale in einem Danse macabre und erinnerte die anderen Gläubigen, den Mönch, die Dame, den Ritter und den Bauern ständig aufs Neue an das Ende, das alles irgendwann einmal haben würde. Der Symbolismus war im grellen Lichtschein wissenschaftlichen Fortschritts verblasst. Und doch lag vielleicht die wirkliche Bewusstheit der Realität nicht bei den modernen Wissenschaftlern und ihren Maschinen, sondern bei den mittelalterlichen Bildhauern vergangener Zeiten. Selbst die traurige kleine Sammlung auf Markbys Schreibtisch war irgendwann einmal ein lebendes, atmendes Ding gewesen. Früher hatte einmal Fleisch an diesen Knochen gehaftet. Der Kiefer hatte sich beim Reden bewegt, hatte Nahrung gekaut, hatte irgendein beliebtes Lied gesungen, und Markby musste dem Toten einen Namen geben. Die Notwendigkeit war wie ein nagender Schmerz. Er würde nicht vergehen, die Frage würde niemals aufhören, ihn zu plagen, morgens, mittags und abends. Waren das dort auf dem Schreibtisch die sterblichen Überreste des Kartoffelmanns? Oder die von einem seiner bemitleidenswerten Opfer? Oder waren es möglicherweise die Gebeine von irgendjemand ganz anderem, der überhaupt nichts mit dem Fall von damals zu tun hatte? Er durfte nicht zulassen, dass er sämtliche anderen Möglichkeiten außer Acht ließ, weil er besessen war von dem Fall von damals.

Es waren zwar nur wenige Knochen, doch sie enthielten den Unterkiefer, und der wiederum enthielt etwas, das sich als unschätzbarer Schlüssel für die Identifikation erweisen mochte. Markby hatte bereits seinen eigenen Zahnarzt angerufen und sich seine Vermutungen bestätigen lassen. Kostspielige zahntechnische Arbeiten sollten nachverfolgbar sein, erst recht, wenn es sich um Arbeiten von dieser Sorte handelte.

Markby ließ sich zu einem ironischen Grinsen hinreißen. Es war nicht die Art von zahntechnischer Arbeit, die ein Dorfbewohner von Lower Stovey sich vor all den Jahren hätte leisten können. Wenn das der Kiefer des Kartoffelmanns war, dann legte es die Vermutung nahe, dass er wahrscheinlich doch von außerhalb des Dorfes gekommen war, genau wie der Reverend Pattinson immer gesagt hatte.

Markby nippte an seinem Tee und verzog das Gesicht. Er hätte hinauf zur Kantine gehen sollen, doch sein Erscheinen dort so früh am Tag hätte für Unruhe gesorgt. Durch das Fenster sah er, wie Dave Pearce auf den Parkplatz einbog, seinen Wagen abstellte und zielstrebig auf das Gebäude zumarschierte. Dave wirkte irgendwie schlecht gelaunt.

Markby ging ins äußere Büro.

»Inspector Pearce ist auf dem Weg nach oben«, sagte er.

»Sobald er hier ist, sagen Sie ihm bitte, dass ich ihn sofort sprechen möchte.«

Pearce machte sich, nachdem er informiert worden war, augenblicklich auf den Weg in Markbys Büro, während er sich fragte, was das zu bedeuten hatte, und die Ablenkung willkommen hieß, die seine eigenen Probleme erst einmal in den Hintergrund drängte. Auf dem Weg zum Büro meldete sich der Zahn erneut und erinnerte Pearce daran, dass er sich nicht so einfach verdrängen lassen würde. Nach dem Umweg über das Büro von Tessas Baufirma hatte er nicht mehr die Zeit gefunden, bei einem Zahnarzt Halt zu machen.

Er fand Markby bei seinem Schreibtisch vor. Der Superintendent starrte auf eine zerknitterte Landkarte, auf der einige nicht unvertraute Objekte lagen.

»Knochen«, beobachtete Pearce mit professioneller Distanz. Innerlich fühlte er sich weit weniger gelassen. War es das, weswegen der Superintendent ihn in sein Büro hatte rufen lassen? Diese blöde Sammlung alter Knochen? Markby würde ihn doch wohl nicht beauftragen, etwas daraus zu machen, oder? Doch, wahrscheinlich genau das. Mit einem Unterton von Resignation in der Stimme fügte er hinzu:

»Sie wollten mich sehen, Sir?«

»Ja, Dave, Knochen. Und ja, ich wollte Sie sehen. Diese Knochen wurden am Wochenende von einem Wanderer in Stovey Woods gefunden.«

Pearce trat näher und musterte ohne Begeisterung die gruselige Sammlung.

»Alt«, stellte er fest.

»Und ziemlich angenagt. In den Wäldern gefunden? Dann sind die Nagespuren wahrscheinlich von Füchsen. Ist das alles? Mehr nicht?« Selbst Markby konnte nicht erwarten, dass er ein Wunder vollbrachte und den Toten identifizierte, ganz gewiss nicht anhand dieser paar Knochen?

O doch, genau das tat er!

 

»Noch nicht. Wir müssen die Fundstelle und die weitere Umgebung absuchen.«

Pearce atmete tief durch.

»Das bedeutet eine Menge Aufwand, Sir. Die Wälder sind ziemlich ausgedehnt. Sie wissen, dass wir ein Personalproblem haben. Sollten wir nicht zuerst die Knochen zu einem Eierkopf schaffen? Sie könnten Gott weiß wie alt sein.«

»Und Sie hoffen offensichtlich, dass es so ist. Ich hingegen hoffe, dass es nicht so ist. Jedenfalls nicht so alt, dass sie seit Menschengedenken dort liegen.« Markby stocherte mit einem langen dünnen Zeigefinger in den Knochen herum.

Pearce unterdrückte deutlich erkennbar den Impuls, nach einem Grund zu fragen. Er erkannte die Gefahr, dass jede Information zu mehr Arbeit führen würde.

»Wenn Tiere an den Knochen waren, dann könnten sie von irgendwo anders zu einem Bau geschleppt worden sein. Vielleicht von weit her«, spekulierte er.

»Dann sollten wir den Kirchhof von Lower Stovey überprüfen«, schlug sein Boss milde vor.

»Nachsehen, ob irgendeines der alten Gräber aufgewühlt wurde. Der Friedhof wird kaum jemals von Menschen betreten, und vielleicht ist es bis jetzt nicht aufgefallen. Ich war am Wochenende selbst dort«, fügte er sich widersprechend hinzu.

»Warum denn das?«, fragte Pearce, diesmal ehrlich neugierig, und legte eine Hand an seinen Kiefer, ohne sich der Geste bewusst zu sein.